II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 444

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16.1. Lebendige Stunden- zykIus
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Energie nur Hochmuth und Lieblosigkeit. „Was ist Potenz über die allgemein=menschlichen Energien. Der stimmbaren, unerklärlichen Ahnung ein derber Theater¬
spuk.
denn Deine ganze Schreiberei“ — ruft er — „und Glaube an eine Macht, die über uns steht und sich im
Wenn Schnitzler an der Grenze menschlichen Be¬
wenn Du das größte Genie bist, was ist sie denn Künstler offenbart, so dass der Mensch nur ihr Werk¬
wusstseins halt gemacht und das dunkle Gefühl im
gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in zeug ist und keinen Willen über sie erlangt, der Glaube
[Traume hätte weiterweben, — wenn er Frau
der Deine Mutter hier auf dem Lehnstuhle gesessen ist an den absoluten Genius, der sich im „naiven Schaffen“
Pauline im Traume zur italienischen Paola der
und zu uns geredet hat oder auch geschwiegen — eines Menschen äußert, — führt bei Schnitzler zu den
Renaissance hätte werden lassen, so wäre die ohjective
occultistischen und spiritistischen Lehren
aber da ist sie gewesen — dal und sie hat gelebt!
gelebt!“ Der Sohn antwortet: „Lebendige Stunden? von der Selbständigkeit des den Leib individuell in Möglichkeit vorhanden gewesen, aus der wissenschaft¬
Sie leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer allen erdenklichen Phasen überlebenden Geistes. Es lichen Atmosphäre in die der holden Poesie zu flüchten.
erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen wird bekanntlich der roheste Schwindel mit diesen Aber die moderne Frau Pauline, die vor dem Bilde
des unbekannten Malers aus dem 16. Jahrhunderte
Stunden Dauer zu verleihen — über ihre Zeit hinaus.“ Ideen getrieben, aber auch ehrliche Schwärmer verirren
(„Die Frau mit dem Dolche“) ihr Ebenbild erkennt,
Der Gedanke ist also klar; aber es liegt an der allzu sich in theosophischen Brutanstalten zum abgeschmack¬
trockenen Interpretation, dass er uns zu schwach scheint testen Gespensterglauben. Vegetarische Theosophen lassen dort, vor diesem Bilde, von dem leidenschaftlichen Be¬
stürmer ihres Blutes um die Gunst einer Nacht ge¬
die Schemen von Fleischfressern zur Buße in den
gegenüber der Macht des natürlichen Gefühles;
beten wird, fühlt, weiß mit einemmale, dass sie vor
Schlachthöusern spuken! „Die Frau mit dem Dolche“
zu wenig psychologische Stützen vermochte der
beinahe 400 Jahren genau in derselben Situation ge¬
nähert sich der Seelenwanderungs=, richtiger: Auf¬
Dichter dem Gedanken zu geben; er machte uns nicht
wesen ist wie heute. Jetzt ist sie die Gemahlin eines
erstehungslehre der occultistischen Theosophen bedenklich.
genügend mit dem Menschen, der seine Gedanken in
erfolggekrönten Dichters, der im Dienste einer Energie,
Es gibt ein dunkles Gefühl, das jeder auf sein Inneres
die That umsetzt, vertraut.
die stärker ist als Liebe und Tod, Liebe und Leben
horchende Mensch kennt: Jetzt sagst du etwas, von
Die Aufführung dieses undramatischen Curiosums
dem du weißt, dass du es noch nie gesagt haben seines Weibes ausschöpft, um aus dem Ge¬
ließ das vermissen, was es allein bühnengerecht machen
heimsten seine öffentlichen Werke zu machen;
kannst, und doch empfindest du, du habest es
kann: Stimmung; die scenische Stimmung vor
genau so irgend einmal schon gesagt; jetzt bist du jetzt droht sie dem anderen Manne anheimzufallen,
allem fehlte, die herbstliche Dämmerung und allmähliche
in einer Lage, von der du genau weißt, dass du den sie nicht liebt, der aber ihre Sinne in
Dunkelheit im Garten, in den das huschende Licht der
im 16. Jahr¬
Laternen fällt. Herr de Grach hätte wohl auch den sie noch nie erlebt haben kannst, und doch ist sie dir Aufruhr bringt. Und danzals
Sohn bedeutender und inniger, Herr Haid den alten im Feinsten als ein Schon=Erlebtes vertraut. Friedrich hundert — war sie, die Itarienerin, die Gattin jenes
Beamten mehr herzlich erbittert, als boshaft sprechen v. Hausegger hat dieses geheimnisvolle Erwachen Meisters, der die „Frau mit dem Dolche“ malte;
lassen sollen. Gedanklich wurde von den beiden Schau= eines fremden und doch eigenen Lebens in uns auf damals gab sie sich einem ungeliebten, schönen Jüng¬
die Vererbung zurückgeführt (Hausegger, Das Jen=linge im Jauchzen seelenloser Lust hin. Nur ihr Leib,
spielern nichts vergriffen. Das Publicum, das sich
seits des Künstlers“) und insbesondere die Räthsel des nicht ihr Gemüth frevelte. Als die Nacht vorüber war,
von den folgenden Stücken gefesselt zeigte, war von
Traumes für die Hypothese herangezogen, dass Stim= da verwarf sie den Jüngling, gestand dem Gatten,
der Einleitung befremdet; aber ein leiser Beifall und
mungen der Ahnen im Enkel zu thauen beginnen. tödtete den Jüngling. Und der Meister nahm in der
die gespannte Aufmerksamkeit während des Stückes ver¬
Schnitzler zog das Geheimnis — nicht ans Tages=, Stunde, die ihm die Ehre raubte, das höchste Leben
riethen Angeregtheit.
Im zweiten Einacter, „Die Frau mit dem abers ans Rampenlicht; damit will gesagt sein, dass seiner Kunst wahr, er zwang den Menschen in sich
Dolche“ haben wir ihn wieder, den Triumph des er der Hypothese nach Art der Geisterbeschwörer Fleisch zur Ruhe und verewigte das sündige Weib mit dem
Künftlers über den Menschen, den Sieg einer höheren und Bein gab; im Rampenlicht wurde aus der unbe= bletigen Dolche im Bilde. Im Bewusstsein der in