II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 445

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16.1. Lebendige Stunden — Zuklus
Bildergallerie an der Seite des leidenschaftlichen Herrn Erinnerungen von anno dazumal zieht, widerspricht Sterbelager. Ihn mit einer sein Familienglück zer¬
zwar dem Halbdunkel, aber in der theatralischen Form störenden Enthüllung zu treffen, zu beugen, ist sein
Leonhard weilenden Frau Pauline erwachen diese vier¬
bitterböser Wille. „Es ist nicht zu glauben,“
braucht man zwischen Erinnerungen und Träumen
hundertjährigen Vorgänge mit solcher Deutlichkeit, wie
meint Herr Rademacher, „wie wenig einem dran
keinen großen Unterschied gelten zu lassen. Jedenfalls
sie der Dichter nach dem Fallen eines Schleiervor¬
liegt, gemein zu sein, wenn kein Tag mehr kommt, an
störten die langen Verwandlungspausen mit ihrem
hanges uns vorführt. Ehe der Schauplatz sich ver¬
Gepolter die Illusion. Fräulein Sussin hatte als dem man sich darüber schämen müsste.“ In dieser
wandelt, nennt bereits Frau Pauline Herrn Leonhard
„lebendigen“ Stunde irrt der Dichter von seinem
Pauline=Paola einen bedeutenden Zug. Groß war die
mit dessen Namen vom Jahre 1530: „Lionardo“
Thema doch einigermaßen ab; denn die Leidenschaft
Und wenn zum Schlusse wieder die Neuzeit die alten Geste, nach der sie gleichsam zum Bildwerke erstarrte.
des Ehrgeizes ist nicht mehr der schaffende Drang.
Herr Mehnert gab dem Leonhard=Lionardo heiße
„Erinnerungen“ (!) verdrängt, weiß Frau Pauline nach
Als der gerufene Kamerad bei dem Sterbenden erscheint,
Leidenschaft ohne Pathos und Herr Baxmann war
der Analogie ihres Schicksales von damals und heute,
erlischt dessen Energie, die böse That geschieht nicht.
dass sie dem Fatum auch jetzt nicht entrinnen kann als Maler Remigio kraftvoll.
Auch auf „Meisterwerke“ der Schreibtischlade verzichtet
Der dritte Einacter, „Die letzten Masken“,
und sagt Herrn Leonhard die nächste Nacht zu ...
der Kranke, denn — „Nachwelt gibts auch nur für
Die Poesie darf die Grenzen des Irdischen ver=führt uns ins Krankenhaus zu zwei sterbenden Men¬
die Lebendigen.“
schen. Auch der Journalist Rademacher und der Schau¬
lassen, dann nennen wir sie Märchen. Wenn sie aber
Das Stück hebt sich durch seinen strengen Realis¬
spieler Jackwerth stehen ihrem Berufe und ihrem
im Gewande der Wirklichkeit, ja sogar mit dem Rüst¬
mus von der „Frau mit dem Dolche“ scharf genug
Wesen nach innerhalb der Peripherie des Künstler¬
zeuge der Philosophie — der Prnunft ins Antlitz
ab. Es ist das nüchternste der Dramen und gibt uns
thums. Auch ihre lebendige Stunde ist nun, kurz vor
schlägt, dann lassen wir uns nicht fangen und betäuben.
wenig anderes Mitgefühl, als das allgemeine für
ihrem Tode, angebrochen. Kaum noch acht Tage Frist
Dass nicht nur die Geister, dass auch die Leiber zweier
gibt der Arzt dem lungenleidenden Komiker, aber der sterbende Menschen. Denn die beiden armen Männer kommen
Menschen nach einigen Jahrhunderten in genau den¬
Wille zur Kunst stachelt seine Lebensgeister auf; in= uns nur durch ihr Leiden, nicht durch ihr Wesen nahe.
selben Formen gleichzeitig auferstehen, dass beide wieder
Ein unangenehmer Zug Heinrich Heine'scher Selbstironie
mitten von Noth und verlöschendem Jammer sprüht
auf denselben Namen getauft werden, denselben Roman
sein gestaltender Witz, und selbst die Sterbenden ist es, dass Schnitzler, der Dichter der „Frau mit dem
noch einmal erleben und sich über die Gräber zahlloser
Geschlechter zurück ihrer versönlichen Vergangenheit imitiert er. Doch ist er nicht herzlos, vielmehr ein Dolche“, den Komiker sagen lässt: „Oh, ich hätt'
erinnern, das ist ärgerlick: Unsinn. Man wäre geneigt, gutmüthiger Mann. Der Journalist hat sein Leben auch im Himmel mein anständiges Auskommen ge¬
die Dichtung für ein Pasquill auf die theosophisch= lang all sein Bestes begraben, sich zugrunde gerichtet habt, — ich hätt' nämlich ein Engagement bei den
im Frohn für andere. Jetzt, da der Schatten des Spiritisten genommen.“
occultistischen Alfanzereien zu halten, wenn der Dichter
Die Darstellung war gut. Man athmete förmlich
Todes ihn umweht, will sich die Energie des Künst¬
nicht den strengsten Ernst bewahrte. Mehr als ein ver¬
Spitalsluft. Nur sollte Herr Haid, der viel kleine
wirrendes loses Spiel der Phantasie ist sie trotz derlers Bahn brechen. Er denkt seiner in der Schreib¬
geistreichen Einzelheiten nicht. Dich das Drama im tischlade verschlossenen Schriften, — noch leidenschaft= Kunst bewährte, das lange, lange Sterben des Rade¬
Drama ist in seiner wuchtigen Knappheit wohlgelun=licher aber der Schätze seines Innern, die er zu macher weniger dehnen. Auch den Uebergang vom
Der Neid, bäumtfesten bösen Willen zur Resignation machte er, da ihm
hat.
heben versäumt
gen.
Der Dichtung hätte die Aufführung ein wenig sich auf gegen jene Glücklichen, die die der sanftere Ausdruck nicht gegeben ist, zu wenig
deutlich. Herr Felix war als sterbenskranker Komiker
helfen können, wenn sie das Zwischenspiel schleier= Gunst äußerer Verhältnisse gefördert hat, und
ganz ausgezeichnet, und Fräulein Palik als Wärterin,
hafter, traumähnlicher gemacht hätte. Die praktische als Genugthuung für sein Leben der Entsagung ruft
Nutzanwendung, die Frau Pauline aus ihren „Lebens“=ser sich einen Kameraden, der hoch gestiegen ist, ans Herr Baxmann als Modedichter, Herr Weinmann