II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 610


stens ließ die während der Vorstellung hin und wieder
unangenehm zutage getretene Unruhe im Zuschauer¬
raume darauf schließen. Was der graziöse Plauderer
Schnitzler in seinen Werken, ob sie nun erzählender
oder dramatischer Natur sind, biett haben wir ge¬
stern, zumal stellenweise die Darstellung eine sehr gute
war, empfunden: Psychologische Vertiefung, frische Ge¬
staltung der Handlung, scharfe Beobachtung und na¬
mentlich — was den Dichter in ganz besonderem Maße
auszeichnet — Schlagfertigkeit und Natürlichkeit des
Dialogs. Das starke Talent des Dichters, der als Me¬
diziner ebensosehr physiologische, als psychologische
Studien gemacht haben muß, trat namentlich in dem
letzten der vier Einakter, dem Lustspiel „Litera¬
tur“, scharf hervor. Daß die „Lebendigen Stunden“
sich in der Literatur eines mit Recht bedeutenden Le¬
serkreises erfreuen, erhellt am besten aus dem Um¬
stande, daß sie schon die sechste Auflage erlebt haben.
Die leichte Erotik, wie sie der Dichter so süß in seinen
Schauspielen „Liebelei", „Freiwild“ und „Das Mär¬
chen“ behandelt, spann sich am gestrigen Schnitzler¬
Abend nur in einem der Einakter durch, in den
Schauspiele „Die Frau mit dem Dolch“.
Von den darstellenden Personen boten Herr Suß,
mann als Journalist und Herr Sturm als Schau¬
spieler, beide Todeskandidaten, die in einem Spitale
untergebracht sind, prächtige Leistungen in dem Schau¬
spiele „Die letzten Masken“, das der Dichter
dem Milieu entnahm, in welchem er sich bewegte, be¬
vor er die Schriftstellerei zu seinem eigentlichen Be¬
rufe machte. Die zwei Patienten, beide trotz der na¬
hen Todesstunde noch immer Schwärmer für das
Ideale ihres Berufes, der Sekundärarzt des Spitals
(Herr Schramm) und die Wärterin (Frau May)
waren lebenswahre Figuren. Das Bildchen „Leben¬
dige Stunden“ eine Art Allerseelenstimmung, er¬

wärme wetz der guten Darstellung (die Herren So¬
dek, Gerb und Hottinger) nicht. In dem
Schauspiel „Die Frau mit dem Dolch“ tat sich
Herr Klötzel als würdiger Partner des Frl. Stei¬
ger hervor; sein Spiel ließ erkennen, daß er sich mit
ganzer Hingebung in seine Rolle hineingelebt hatte;
natürliche Bewegungen, deutliche Aussprache und na¬
ssientlich schöner Vortrag der Verse fielen sehr ange¬
nehm auf. Frl. Steiger sprach manchmal ein we¬
nig zu leise, stand aber sonst, insbesondere in Augen¬
blicken des Affektes, auf der Höhe der Situation.
Eines ist uns unbegreiflich — und dafür können weder
der Dichter, noch seine mimischen Interpreten verant¬
wortlich gemacht werden — wie ein so fratzenhaftes
Bild, wie das der „Frau mit dem Dolche“, die Heldin
des Stückes bis zu einer Vision verleiten konnte. Das
Stück hätte übrigens, von diesem Fehler abgesehen,
auch dadurch wesentlich gewonnen, wenn sich die Ver¬
wandlungen bei offener Szene hätten vollziehen lassen.
Das Beste blieb bis zum Schlusse aufbewahrt —
das geistreiche Lustspiel „Literatur“, eine der
saubersten Perlen Schnitzler'scher Muse. Herr Gerb
fand darin Gelegenheit, den Typus jener Gesellschaft
„von blauem Blut und guten Sitten“ zu zeichnen, de¬
ren an Titeln, Ehren und Glücksgütern reich gesegne¬
tes Leben sich innerhalb der Begriffe Weib, Pferd,
Hund und Sekt bewegt. Der Baron des Herrn Gerb,
ein aristokratisches Gigerl, dem die Jünger der schö¬
nen Künste und ihre Werke ein Graus sind, dem bei
dem Worte Literatur der Ekel in alle Glieder fährt,
war in Sprache, Gestalt und Gesten eine Musterlei¬
stung. Die geschiedene Fabrikantensgattin, die, nach¬
dem sie bei der Boheme Zuflucht gefunden, von dem
Baron „emporgehoben“ wurde, gab Fräulein Steffi
Orth sehr brav. Ein Blumenstrauß lohnte ihre
Mühe. Der Schriftsteller des Herrn Schramm war
eine in jeder Beziehung gelungene Figur, voll Lie¬
benswürdigkeit und schelmischen Humors. Regisseur
des ganzen Zyklus war Herr Sußmann. Es er¬
übrigt uns noch zu bemerken, daß Schnitzler nicht nur
gesehen, sondern auch gelesen sein will.