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16. 1. Lehendige StundenZ#KL#
Telephon 12.801.
—
„OBSERVER
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
Ausschnitte und Bibliographie.
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berli“, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genk, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
Quelienangabe ohne Gesrähr.)
Ausschnitt aus:
15 1. 181; BOHEMIA, PRAG
vom:
Theater und Musik.
4
Schnitzkers Lebendige Stunden“.
(Neues deutsches Theater.)
box 21/5
15. Jänner 1911.
—
——
und Wachen, Wahrheit und Lüge ineinanderfließen
Mit größerer Energie als jemals durchforscht er hiet
das zentrale Rätiel der Kunst Als Illusion, Schleier
Spielball schwebt sie über der Wirklichkeit und trium
phiert. Der erste Akt, dem der Gesamttitel entnommer
ist, gibt das Thema. In einem von müdem herbst
lichem Duft erfüllten Garten begegnen sich der greise
Freund einer Toten, dem alles zerstört ist, und Heinrich,
ihr Sohn, ein junger Dichter. Richts geschieht, nur
ein Gespräch wird zwischen beiden geführt, worin der
Alte seinen großen Schmerz gegen den zeitlichen
Schmerz des Jünglings aufvietet. Denn dieser
Heinrich ist Künstler und wird vielleicht durch den
Tod der Mutter, die seit Jahren von Siechtum heim¬
gesucht war, die verlorene Produktionsfähigkeit zu¬
rückgewinnen. Um ihn zu befreien, hat die Mutter
sich geopfert. Er weiß es nicht, und soll es nicht
erfahren; aber dem Freunde hat sie in einem letzten
Brief das Geheimnis ihrer Liebe und ihres Sterbens
mitgeteilt. Da bricht im Verlauf des Gespräches
der eifernde Zorn des Alten los, er enthüllt dem
Jüngling die Wahrheit, und er schleudert ihm die
Anklage des erlebenden Menschen wider den, der
fremdes Leben belauscht und fordert, ins Gesicht:
„Was ist denn deine ganze Schreiberei, und wenn
du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so
eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine
Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu
uns geredet hat, oder auch geschwiegen — aber da
ist sie gewesen — dal und sie hot gelebt, gelebt!“
Doch der Jüngling findet eine Rechtfertigung. Leise
und stolz sagt er zu dem Trauernden: „Lebendige
Stuneen? Sie leben doch nicht länger als der letzte,
der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste
Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über die
Zeit hinaus.“
Im zweiten Schauspiel, der „Frau mit
dem Dolche“ wird die Illusion aus einer
sanften, wehmutverklärten Herrscherin zur grausemen
Tyrannin. Nicht bloß, daß Paulas Gatten, dem
Dichter Gottfried, alle Ereignisse nur Stoff zur Dich¬
tung sind wie dem Maler Remigio der furchtbare
Mord nur Vorwand zum Gemälde: in betörendem
Schauer wird für Paula ihr heißestes Erlebnis, die
Liede zu Leonhard, ein Phantom, die schattonhafte
Abspiegelung eines früheren Begebnisses. Zusammen¬
hänge werden aufgeveckt, die der auf dem Sofa der
Gemäldegalerie Kauernden den Boden unter den
Füßen wegreißen und sie zur verbrecherischen Trä¬
gerin der Wiederkeyr des Gleichen machen Bof
dem Renaissancebild „Die Frau mit dem Dolche“
verabreden Paula und Leonhard eine Liebesnacht.
Und danu wird Paula in quälendem Traumgesicht
zu Paola, der Heldin des Bildes, Gottfried zu Re¬
migio, Leonhard zu Paolas Buhlen Lionardo, den
sie reuig verschmäht, und der dem zurückkehrenden
Remigio höhnend sagt, daß er ihn betrogen habe.
Um Remigio vor Lionardos Mordstahl zu bewahren,
stößt Paola diesem den Dolch ins Herz. Wild
überblickt Remigio den Saal. Er starrt sein Weib
an, und von der Inspiration ergriffen, banut er die
Szene auf die Leinwand. Da kommt die levende
Paula von heute wieder zu sich. Sie weiß, was
ihr bevorsteht, aber noch taumelnd verheißt sie Leon¬
hard die erbettelte Gunst. In dieser Tragödie mit
geschlossenen Augen sind ein Bühnentrick
die
blitzschnelle Verwandlung der Bühne —, ein Lebens¬
imysterium und etwas von dem Kolorit, der rau¬
schenden Musik und dem Blutounst des „Schleiers
der Beatrice“ seltsam und bennruhigend vereinigt.
Im dritten Stück, den „Letzten Masken“,
ist die Illusion aufs neue Siegerin; sie siegt, mi߬
handelt und geschändet. Im Allgemeinen Kranken¬
haus soll der Jouenalist Rademacher sterben, ein
Bankerotteur des Lebens, der aus Not ein Hand¬
werker des Geistes geworden ist, ein armer Schächer
in dessen Schreibtisch herrliche Entwärfe liegen. Er
erwartet den Besuch eines Jugendgefährten, eines
Rasen
berühmten Dichters, eines kalten
16. 1. Lehendige StundenZ#KL#
Telephon 12.801.
—
„OBSERVER
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
Ausschnitte und Bibliographie.
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berli“, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genk, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
Quelienangabe ohne Gesrähr.)
Ausschnitt aus:
15 1. 181; BOHEMIA, PRAG
vom:
Theater und Musik.
4
Schnitzkers Lebendige Stunden“.
(Neues deutsches Theater.)
box 21/5
15. Jänner 1911.
—
——
und Wachen, Wahrheit und Lüge ineinanderfließen
Mit größerer Energie als jemals durchforscht er hiet
das zentrale Rätiel der Kunst Als Illusion, Schleier
Spielball schwebt sie über der Wirklichkeit und trium
phiert. Der erste Akt, dem der Gesamttitel entnommer
ist, gibt das Thema. In einem von müdem herbst
lichem Duft erfüllten Garten begegnen sich der greise
Freund einer Toten, dem alles zerstört ist, und Heinrich,
ihr Sohn, ein junger Dichter. Richts geschieht, nur
ein Gespräch wird zwischen beiden geführt, worin der
Alte seinen großen Schmerz gegen den zeitlichen
Schmerz des Jünglings aufvietet. Denn dieser
Heinrich ist Künstler und wird vielleicht durch den
Tod der Mutter, die seit Jahren von Siechtum heim¬
gesucht war, die verlorene Produktionsfähigkeit zu¬
rückgewinnen. Um ihn zu befreien, hat die Mutter
sich geopfert. Er weiß es nicht, und soll es nicht
erfahren; aber dem Freunde hat sie in einem letzten
Brief das Geheimnis ihrer Liebe und ihres Sterbens
mitgeteilt. Da bricht im Verlauf des Gespräches
der eifernde Zorn des Alten los, er enthüllt dem
Jüngling die Wahrheit, und er schleudert ihm die
Anklage des erlebenden Menschen wider den, der
fremdes Leben belauscht und fordert, ins Gesicht:
„Was ist denn deine ganze Schreiberei, und wenn
du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so
eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine
Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu
uns geredet hat, oder auch geschwiegen — aber da
ist sie gewesen — dal und sie hot gelebt, gelebt!“
Doch der Jüngling findet eine Rechtfertigung. Leise
und stolz sagt er zu dem Trauernden: „Lebendige
Stuneen? Sie leben doch nicht länger als der letzte,
der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste
Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über die
Zeit hinaus.“
Im zweiten Schauspiel, der „Frau mit
dem Dolche“ wird die Illusion aus einer
sanften, wehmutverklärten Herrscherin zur grausemen
Tyrannin. Nicht bloß, daß Paulas Gatten, dem
Dichter Gottfried, alle Ereignisse nur Stoff zur Dich¬
tung sind wie dem Maler Remigio der furchtbare
Mord nur Vorwand zum Gemälde: in betörendem
Schauer wird für Paula ihr heißestes Erlebnis, die
Liede zu Leonhard, ein Phantom, die schattonhafte
Abspiegelung eines früheren Begebnisses. Zusammen¬
hänge werden aufgeveckt, die der auf dem Sofa der
Gemäldegalerie Kauernden den Boden unter den
Füßen wegreißen und sie zur verbrecherischen Trä¬
gerin der Wiederkeyr des Gleichen machen Bof
dem Renaissancebild „Die Frau mit dem Dolche“
verabreden Paula und Leonhard eine Liebesnacht.
Und danu wird Paula in quälendem Traumgesicht
zu Paola, der Heldin des Bildes, Gottfried zu Re¬
migio, Leonhard zu Paolas Buhlen Lionardo, den
sie reuig verschmäht, und der dem zurückkehrenden
Remigio höhnend sagt, daß er ihn betrogen habe.
Um Remigio vor Lionardos Mordstahl zu bewahren,
stößt Paola diesem den Dolch ins Herz. Wild
überblickt Remigio den Saal. Er starrt sein Weib
an, und von der Inspiration ergriffen, banut er die
Szene auf die Leinwand. Da kommt die levende
Paula von heute wieder zu sich. Sie weiß, was
ihr bevorsteht, aber noch taumelnd verheißt sie Leon¬
hard die erbettelte Gunst. In dieser Tragödie mit
geschlossenen Augen sind ein Bühnentrick
die
blitzschnelle Verwandlung der Bühne —, ein Lebens¬
imysterium und etwas von dem Kolorit, der rau¬
schenden Musik und dem Blutounst des „Schleiers
der Beatrice“ seltsam und bennruhigend vereinigt.
Im dritten Stück, den „Letzten Masken“,
ist die Illusion aufs neue Siegerin; sie siegt, mi߬
handelt und geschändet. Im Allgemeinen Kranken¬
haus soll der Jouenalist Rademacher sterben, ein
Bankerotteur des Lebens, der aus Not ein Hand¬
werker des Geistes geworden ist, ein armer Schächer
in dessen Schreibtisch herrliche Entwärfe liegen. Er
erwartet den Besuch eines Jugendgefährten, eines
Rasen
berühmten Dichters, eines kalten