II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 649

16.1. Lebendige StundenZukius
Behemia Nr. 15.
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haben. Die Verwandlung in der „Frau mit dem
Dolche“ ist ein Experiment, wie es nachher Haupt¬
manns „Elga“ darbot; nicht einen kuarrenden, wider¬
spenstigen Apparat, sondern einen szenischen Traum
soll der Zuschauer vor sich sehn. Und in der Spital¬
studie, die der Arzt Schnitzler so plastisch herausge¬
arbeitet hat, als ob wir mit ihm die Runde durch die
Schlafsäle des grauen Riesenhauses an der Alser¬
straße machten, ist unentbehrlich die exakte Charak¬
teristik des Raumes. Gestern glückte der Versuch im
ersten Bild, im zweiten mißlang er, im dritten
schien er nicht zureichend durchgeführt. Das erste
Bild hatte Perspektive — man sah eine Vorort¬
straße von ländlicher Traulichkeit — und angenehme
Beleuchtungseffekte: der tiefblaue Himmel verdunkelt
sich, und plötzlich flammt mit tiefgelbem Licht die
Laterne auf, mit schwachem Schein die Personen
bespülend. Im zweiten Bild, bei der Verwandlung,
war nicht so sehr die Tücke der Dekoration ein
Hindernis. Denn nur die Rückwand ist während
der beiden Pausen, in denen der Schleier die Bühne
absperrt und die Mittagsglocken tönen, zu heben
und zu senken. Fataler war der Zeitverlust durch
Toilettenwechsel. Ersatz des kapriziösen winterlichen
Kostüms, in dem Frau Steinheil hin und her
trippelt, durch langen Pelz und eine primitive
Kopfbedeckung hätte — so scheint es — Schnitzlers
ausgeklügeltes Wagnis auch bei einem ungläubigen
Publikum noch gerettet. Im dritten Bild erweckten
Saalwand und Hintergrund nur unvollkommen die
gewünschte Krankenhausillusion.
Dramolets dieser Art, die jeweils nur zwei bis
drei der Schauspielmitglieder auf die Bühne bringen
und an hingebenden Fleiß appellieren, sind oft ein
Prüfstein für Begabungen. In den „Lebendigen
Stunden“ spielt Herr Schätz den alien Haushofer,
spröd und mit hervordringendem Gefühl. Herr
Kaden ist als Heinrich klug und diskret, aller¬
dings ohne die Lyrik geben zu können, die mit¬
schwingen muß. In der „Frau mit dem Dolche“
steht einzig Herr Tiller an einem von Natur ihm
zugewiesenen Platz, und sein Leonhard=Lieuardo hat
Exaltation genug. Aber wenn Frau Steinheil
auch eine Salondame ist, deren kühler und erheit¬
ternder Verve wir uns freuen, auf dem Kothurn
kippt sie um, und ihrer Paola fehlt in der Re¬
naissanceszene Geste und Rhetorik. Herr Faber giebt
dem Remigio, für den er nicht prädestiniert ist, wenig¬
stens die äußere Haltung. Am höchsten steht das
Zusammenspiel in den „Letzten Masken“ Herr Dr.
Manning spricht den Rademacher mit Bravour
und Steigerung, Herr Huttig macht aus Jack¬
werth, dem Komödianten, einen echten Menschen,
und Herr Rittig trifft den Berühmten, seine
pofierende Herablassung und seinen Rest von Bon¬
hommie, ohne eine Spur von Uebertreibung.
Das Haus war dicht besetzt. Beim ersten und
beim zweiten Stück schwankte die Aufnahme, das
dritte eroberte die Mehrheit. Vor acht oder neun
Jahren, als diese kleinen Dramen hier ihre Premieren
P. w.
eerlebten, mag es ähnlich gewesen sein.
Die Hauptmann-Premiere in Berlin.
Wie wir bereits im größten Teil der Auflage
unseres Samstagblattes meldeten, hat die Urauf¬
führung von Gerhart Hauptmauns Tragiko¬
mödie „Die Ratten“ im Berliner Lessingtheater
dem Dichter einen Erfolg gebracht. Die Beurteilung
des Stückes in der Presse der Reichshauptstadt ist
wie immer ganz verschiedenartig. Paul Schlenther,
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der jetzige Kritiker des „Berl. Tageblatts“ gibt sein
Wotum in etwa folgenden zusammenfossenden Sätzen
ab: „Gerhart Hauptmann ist wieder einmal beim
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Naturalismus seiner Jugend eingekehrt; bei jeuem
angeblich längst „überwundenen“ längst „verwirt=Pa
schafteten“ Naturalismus, der, wie jede andere künstejgen
lerische Daseinsformation ewig bereitsteht und bloß
von der geeigneten Dichterhand aus dem Arsenal S
geholt zu werden braucht, wenn mau ihn braucht. F
Man braucht ihn, wenn man im Nächsten das Höchste, 19
K
Gemeinsten das Reinste im Niedrigsten das Tiefste
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