II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 687

16.1. Lebendige Stunden zyklus box 21/5
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— Der zweite Einakter, das Schauspiel „Die Frau mit
dem Dolch“, versetzt uns in seinem Hauptteil in die Re¬
naissancezeit Italiens und zeigt uns, wie ein großer Künstler
ein entsetzliches Ereignis, das ihn höchst persönlich angeht, im
Augenblick der Tat als gestaltender Künstler und nicht als Mensch
ansieht. Seine Frau, die ihn liebt, die aber ihr heißes Blut wäh¬
ver¬
Untreue
rend einer längeren Abwesenheit zur
leitet hat, ersticht, nachdem sie dem heimkehrenden
vor
hat,
reuig gestanden
Schuld
ihre
Gatten
. Promberger Stadttheater.
dessen Augen ihren Geliebten, weil er sich an ihrem Manne rächen
Lebendige Stunden.
will. Und als die Mörderin entgeistert dasteht, da formt sich dem
Gatten das Ereignis zum Bilde. Er greift hastig zu seinen Maler¬
Arthur Schnitzler ist Feuilletonist unter den modernen
utenstilien und entwirft das Gemälde „Die Frau mit dem Dolche",
Dramatikern. Er bevörzügt die knappe Form des Einakters und
ehe er die Schuldige richtet. So entsteht auch hier aus der Ver¬
hat bereits drei Einakterenklen geschrieben, von denen der zuletzt
nichtung des Einen neues künstlerisches Leben für einen anderen:
entstandene nun auch in unserem Stadttheater aufgeführt worden
ein unsterbliches Kunstwerk. Die hier geschilderte Seene wird
ist. Die scharfe Lebensbeobachtung, eine intime Stimmungskunst,
als Vision einer Künstlersgattin vorgeführt, deren Schicksal ein
sowie geistvolle Auffassung und Behandlung des Sujets, die
modernes Pendant zu dem der Frau mit dem Dolch ist. Ob diese
wesentlichsten Vorzüge Schnitzlers, kommen auch in diesem Cyklus,
Einkleidung des Grundgedankens in einer für ein Drama be¬
„Lebendige Stunden“ betitelt, stark zur Geltung, es fehlen aber
sonders glücklichen Weise erfolgt ist, darüber läßt sich streiten. Im
auch die Mängel nicht, die vor allem in teilweise ungenügender
übrigen aber weist dieses Schauspiel die stärksten dramatischen
psychologischer Motivierung sowie darin bestehen, daß das Motiv
Accente aller vier Einakter auf und wenn es hier trotzdem, ebenso
vielfach mehr novellistisch als dramatisch entwickelt ist.
wie der erste Einakter, keine besondere Wirkung ausübte, so lag
Die verbindende Grundidee dieses Einaktercyksus besteht in
das an der zu matten Darstellung, während hier gerade von einer
vier verschiedenen Illustrationen des Satzes, daß aus einer
stark individuellen Leistung der Schauspieler, vollendetem Spiel
Stunde, die für den einen Vernichtung bedeutet, einem anderen
und meisterhafter Dialogführung alles abhängt.
icues Leben erblühen kann. Das sind dann wahrhaft „Lebendige
Stunden“, dem auch der, für den ein solcher Moment zur Todes¬
Im dritten Einakter, „Die letzten Masken“ tritt der
tunde wird wirkt in demselben lebenschaffend durch den Impuls,
erwähnte Grundgedanke weniger plastisch hervor, auch läßt die
en er auf den anderen ausübt. Dieser Gedanke ist in der Dich¬
Motivierung der eigentlichen Handlung zu wünschen übrig. Das
ung seit jeher vielfach behandelt worden. Schnitzler wendet ihn
Ganze ist eine Spitalszene. Ein kranker Schauspieler studiert
beziell auf das Verhältnis des Lebens zur Kunst an. Mit Bezug
den Todeskampf der Sterbenden, wie die Regungen der Ge¬
uf dieses hat z. B. Grillparzer einen ähnlichen Gedanken ausge¬
Neben ihm steht
nesenden zur Ausnutzung für seinen Beruf.
prochen, als er schrieb: „Steh, was das Leben dir entzogen,
im Vordergrunde des Interesses ein sterbender Dichter und Jour¬
Ob dir's ersetzen kann die Kunst.“ Besonders prägnant tritt
nalist, der elend verkommen ist, weil er ein unpraktischer Idealist
ie Ahnlichkeit dieses Gedankens mit Schnitzlers Idee in dem
Er hat nur noch den einen Wunsch, vor seinem Ende
war.
rsten Einakter, der dem ganzen Cyklus den Namen gegeben hat
einen früheren Freund, dessen Talent zwar geringer war als
„Lebendige Stunden“ — hervor. Ein junger Dichter
das seinige, der es aber verstanden hat, sich Glück und Ruhm zu
rfährt kurz nach dem Tode seiner über alles geliebten Mutter,
erobern, zu demütigen. Als dieser nun aber vor ihm steht und
ie unheilbarem Siechtum verfallen war, aber wohl noch zwei
der Sterbende nun erfährt, daß der Ruhm seines Rivalen im
der drei Jahre hätte leben können, daß sie sich selbst das Leben
Schwinden begriffen und auch sonst sein Glück nur ein sehr äußer¬
jenommen hat um seinetwillen, weil der Anblick ihres Leidens,
liches und fragwürdiges ist, da verzichtet er darauf, seine Bache
das langsame Herannahen des sicheren Endes der geliebten Mutter
zu kühlen, denn jener muß ja weiter leben, warum soll er, der
ihm, der sich aufopfernd ihrer Pflege gewidmet hat, allen Lebensmut
Sterbende, jenem hart um Lebensfreude und um die Behauptung
lähn und die Schaffenskraft zu brechen droht und weil sie das durch
seiner Position Ringenden das Leben vergiften. So sehen wir
Aufopferung des letzten Restes ihres sonst zwecklosen Lebens
auch hier aus der Selbstüberwindung des einen neue künstlerische
verhindern will. Der Fall kommt ja im wirklichen Leben gar
Schaffensmöglichkeit für einen anderen sprießen. Die Dar¬
nicht so selten vor. Es sei nur an den Selbstmord der Charlotte
stellung dieser packenden realistischen Studien durch die Herren
Stieglitz erinnert, die sich deshalb das Leben nahm, um ihren
Meßmer (Schauspieler), Ernst, der den sterbenden Jour¬
Gatten, der zu verflachen und unprobuktiv zu werden drohte, durch
diese heroische Tat aufzurütteln und zu neuem dichterischem nalisten gab, Blume, der Interpret des glücklicheren Dichters,
Nesselträger (Arzt), sowie Fräulein Debicke (Kranken¬
Schaffen anzuregen. In dem Schnitzlerschen Einakter weiß der
wärterin) verdiente ohne Einschränkung das wärmste Lob und
Sohn den Sinn der Tat richtig zu erfassen, denn er sagt, soll ich
fand denn dieser Einakter auch starken Beifall.
nicht das Bewußtsein haben, der Mörder meiner Mutter gewesen
Der vierte Einakter, „Literatur“, ist gewissermaßen das
zu sein, so muß ich durch mein Schaffen beweisen, daß meine
Satyrspiel zu diesen ernsten Variationen des Todesgedankens.
Mutter sich für eine würdige Sache geopfert hat, daß sie
Er zeigt in stark satyrischer und humorvoller Weise, wie die
nicht mir, sondern der Kunst, dem Gemeingut der Menschen, ein
modernen Naturalisten ihre „lebendigen Stunden“ des Liebes¬
Opfer gebracht hat. Der philiströse Freund der Verstorbenen,
glücks ausschlachten zu erotischen Gedichten und naturalistischen
der wider deren Willen das Geheimnis ihres Sohnes verrät,
Romanen. Die Fabel ist recht hübsch und launig entwickelt. Das
nennt freilich diese freie Künstlermoral grauenhaft und meint,
Lustspielchen fand ebenfalls viel Applaus, obwohl die Darstellung,
wahrhaft „lebendige Stunden“ seien nur die gewesen, als die
wenn sie auch recht bühnenwirksam war, in Bezug auf die Wieder¬
Verstorbene noch lebte und durch ihr gütiges Wesen ihre Um¬
gebung läuternd erfreute, der Autor aber läßt keinen Zweifel dar¬
gabe der Intentionen des Dichters manches zu wünschen übrig
über, auf wessen Seite er steht. Man sieht, daß es der Held dieses
ließ. Fräulein Wüst war als Schriftstellerin nicht „modern",
Einakter mit dem Grillparzer=Spruch versuchen will: „Sieh,
nicht „differenziert“ genug, Herr Weinig fand zwar für den
was das Leben dir entzogen, ob dir's ersetzen kann die Kunst.“
Das Stück ist ganz undramatisch, aber es liegt ein intimer poeti= Herrenreiter sprachlich den richtigen Ton, aber nicht in der Dar¬
stellung, und Herr Meßmer brachte den „ironischen“ Schrift¬
scher Reiz in dem fein geschliffenen Dialog und eine starke ele¬
steller zwar gut zur Haltung, aber nicht den modern=„genialen“.
gische Stimmung über dem Ganzen. Gesprochen wurde dieser
Alles in allem bot die Aufführung einen literarisch sehr in¬
stimmungsvolle Dialog von den Herren Baumeister und
E. G—1.
teressanten Abend.
Ernst recht brav.

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