II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 87

box 20/1
14. Der SchleienderBeatrie
nur seine ersten Einakter gespielt worden. Ich gehöre durchaus nicht
zu den Ueberschätzern der Etikette „Jung=Wien'. Mir sind die Jung¬
Wiener Offenbarungen eigentlich zu pretiös und zu arm an Natur.
Aber ich verkenne nicht, daß ein Burgtheaterdirektor an diesen Werken
doch nicht ostentativ vorübergehen darf, schon aus dem Grunde, weil
im Wienerwald zurzeit nichts Höheres wächst, es wäre denn Karl
Schönherr. Wir sind gerecht: Schönherr ist ein Aktivum auf dem Konto
Schleuthers. Diesen jungen Tiroler hat er gehegt und gehutet. Am
Ende ist die dichterische Beute jedes heutigen Theaterdirektors ganz
klein, denn wir sind furchtbar arm geworden. Doch auch das bischen
Blühen hat Schlenther übersehen. Er hat Wilhelm Schmidtbonn
und Herbert Eulenberg nicht bemerken wollen; da roch er „die Rein¬
hardt=Clique'. Für Schlenther hat keines von den großquadrigen
Dramen Strindbergs existiert. Er ist, weil ihm alle Experimentier¬
kühnheit mangelte, an „Hidalla' und dem „Marquis von Keith ven
Wedekind vorübergegangen, obwohl er an Treßler einen meisterhaften
Wedekindspieler gehabt hätte. Er hat Bernard Shaw leichtherzig dem
Volkstheater überlassen, aber er hat dafür — es ist hundertmal gesagt
worden — die abgeschmacktesten Blumenthäler und Kadelburgen mitten
in die einst heroische Burglandschaft gebflanzt. Den plattesten und
spekulativsten Jung=Wiener, Herrn Hu Muller, hat er begönnert,
aber die höchsten Shakespearedramen dem Burgtheater fremd werden
lassen. Kein Macbeth war mehr möglich, kein Coriolan. Die Königs¬
dramen verschwanden fast. Kein Othello ist mehr möglich, unser Lear
ist tot und unersetzt, was aber noch da ist, wie Romeo und Julia, besteht
in schändlicher Mittelmäßigkeit. Hebbel lebt nur noch mit dem „Gyges'
im Repertoire, Grillparzer in ein paar verwaschenen, faden Vorstel¬
lungen. Kein jugendlicher Wille, keine neuschaffende Regisseurphan¬
tasie belebt die Meister.
Das sind Tatsachen, die schließlich allen Zuschauern deutlich
wurden. Es wäre blöde, sich die Einstimmigkeit der wiener Kritiker
einfach durch Cliquenschlusse zu erklären. Der alte Hugo Wittmann,
der ganz für sich lebt, ist gerade so wenig Cliquenplänen zugänglich wie
Engelbert Pernerstorfer, der ehedem ein Tafelgenosse Schlenthers war.
Wenn Felix Salten Schlenther bekämpfte, so wäre das im allgemeinen
ei. Grund für manchen wiener Kritiker, justament für Schlenther ein¬
zutreten. Ich rede gar nicht von Ludwig Hevesi, Alfred Poigar,
Hermann Bahr und mir, die auch zu keinem Rutlischwur zu haben
wären. Nein, wir sind nur in einem einzigen Punkt einer Meinung,
und diese Einstimmigkeit hat Schlenther selbst erzeugt.
Nicht nur theatralisch war Schlenther seiner Aufgabe nicht ge¬
wachsen, er verstand auch seine kulturelle Rolle nicht. Eine der
schönsten Neuerungen, die Burckhard eingeführt hatte, waren die Ar¬
beitervorstellungen an Sonntagsne.
agen für die Gewerkschaften.
89