II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 420

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14: Der Schleier der Beatrice
Theaterschau.
(März.)
d SC
Berlin, 2. April 1903.
Es lebt in jedem Menschen ein ethisches Bedürfnis, das vom Leben
wie von der Dichtung verlangt, die Tugend müsse belohnt und das Laster
bestraft werden. Je nach der inneren Verfeinerung und Vertiefung
versteht nun aber jeder unter Tugend und Laster verschiedenes, denn je
nach der inneren Vertiefung und Verfeinerung seiner eigenen Seele wird
jeder auch das Maß seiner Anforderungen an den Mitmenschen ändern,
das heißt, nicht nach dem ersten äußerlichen Eindruck die Maßstäbe
tugendhaft und lasterhaft, gut und böse anwenden, sondern vorerst mit
Vorsicht und Gründlichkeit den Motiven der Handlung nachgehen und
auf diese Weise, je mehr er den komplizierten Bau der Seele erkennt,
bald dahin kommen, das alte Schema der Verantwortlichkeit zu ver¬
werfen. Es ist nicht zu leugnen, daß die sog. moderne Bewegung
uns auf diesem Gebiete ein gut Stück weiter gebracht hat. Wir
lassen uns heute in der Dichtung nicht mehr mit den alten Typen des
Bösewichts und des von Edelmut triefenden Helden abspeisen. Wir
glauben auch nicht mehr so leicht daran, daß spätestens im letzten
Akte der Bösewicht auf jeden Fall bestraft werden muß und der Edle
seinen Lohn erhält. Wir sehen den Dichter scharf auf die Finger,
ob seine Gestalten auch so empfinden, reden, handeln, wie lebendige
Menschen empfinden, reden, handeln, und wir sind heute nicht mehr so
gefällig, böse und gut zu nennen, was man früher schnellfertig so
nannte. Wir wollen auch in der Dichtkunst, wie in der Malerei,
Schattierungen, Übergänge, Ruancen, nicht Lokalfarben.
und zwar wohl noch für sehr lange Zeit, eine dichtgeschlossene
„kompakte Majorität“, die unbeirrt nach dem alten Maßstabe weiter
urteilt, die nichts anderes vom Theater verlangt, als daß die Tugend
einige Akte hindurch in Bedrängnis gerät und im letzten Akte zur
Belohnung eine wunderschöne Bescherung erhält: Leid und Schmerz
sind nur Prüfungen, harre nur aus, der letzte Akt führt alles zum
Guten. Wie tief diese optimistische Lebensauffassung im Menschen
ourzelt, davon gab uns gestern die Erstaufführung von Alfred
Capus vieraktigem Schauspiel „Die Schloßherrin“ im König¬