II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 438

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14. Der schleier der Beatrice
Kunstberichte.
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Aber wir“ — so spricht der Herzog ernst — „sind allzustreng und leiden's
nicht und jeder von uns wollte nicht nur das einz'ge Spielzeug sein —
nein, mehr! Die ganze Welt. So nannten wir dein Tun Betrug und
Frevel — und du warst ein Kind!“.. So hebt der Herzog, während
die letzte Sonne, die sie alle sehen werden, heraufdämmert und vor den
Toren schon der Kampf beginnt, den Schleier ihres Wesens.
. Was ist's mit diesem Schleier, der nun als leere Hülle zwischen
den beiden Toten, dem Dichter und dem Mädchen liegt? Ist es das, was
die Alltagsmenschen „Gewissen“ nennen? Das dieses Kind nicht kannte,
das sie, an solche Tracht nicht gewöhnt, bei der ersten Gelegenheit abstreift.
ohne es zu merken, und das — als sie es wiederfindet — zum erstenmal
ein müdes Todesverlangen in ihr weckt?
Ist es der Schleier, den Mutter Natur uns allen geheimnisvoll mit¬
gegeben, unserer Bestimmung, unseres Wesens Kern verhüllend? Das
Rätsel des Geschöpfes wie der Schöpfung? Das, wenn es unser Tun ent¬
hüllt, unsere große Schuld zeigt und zugleich unsere große Anschuld? And
liegt hier nicht das rätselechteste aller Schöpfungsrätsel, das große Geheimnis
des Weibes, das verschleierte Bild der Frauenseele? die alles Große und
Glänzende im Leben nur als ein buntes Spielzeug ihrer Triebe ansieht?
Ein geheimnisvolles Walten, verderblich und doch immer neu das Leben
gebärend, erbärmlich und doch groß wie das Genie, das auch rein instinktiv
handelt! Alle diese Männer hielten nur ein verschleiertes Bild in ihren
Armen. Allen log der Schleier der Beatrice, dieser seltsame Schleier, der
das Nächste und Fernste verknüpft. Hinter dem sich die Arkeime aller
Kreatur regen. Der des Weibes Bewegungen wohl erkennen läßt, aber
ihre Seele verhüllt. „Dein Schleier ist ein Teil von deinem Selbst
und dennoch zupf und zerr' ich stets an ihm und hätt' ihn gestern gern dir
abgerissen". And als sie ihn endlich abgerissen haben, diese begehrenden
Männer, da stehen sie enttäuscht, vergrämt, zornig. So liebt der Mann
nur die Hülle des Weibes, die glänzende, berückende. And wenn diese
Hülle fällt, wird das Wort des Einsiedlers von Maria — Sils wahr:
„Wer begriff es ganz, wie fremd sich Mann und Weib sind?“
Der auch sprach das Wort: „Wer von euch Schleier und Aberwürfe und
Farben und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrig behalten, um
die Vögel damit zu erschrecken“. Und an anderer Stelle: „Alles am Weibe
ist ein Rätsel .... Der Mann ist für das Weib ein Mittel ... Wenig
versteht sich sonst das Weib auf Ehre. Aber dies sei eure Ehre, immer
mehr zu lieben als ihr geliebt werdet . . . Der Mann fürchte sich vor dem
Weibe, wenn es liebt: da bringt es jedes Opfer und jedes andere Ding
gilt ihm ohne Wert. ... Also sprach das Eisen zum Magneten: ich hasse
dich am meisten, weil du anziehst, aber nicht stark genug bist, an dich zu
ziehen ... Der Mann ist im Grunde der Seele nur böse, das Weib aber
ist dort schlecht... And gehorchen muß das Weib und eine Tiefe finden
zu seiner Oberfläche ... Des Mannes Gemüt aber ist tief, sein Strom
rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift
sie nicht ...“
In der Tat, es ist erstaunlich, wie greifbar die Philosophie Nietzsches
in diesen Schleier der Beatrice verwoben ist. Und das ist die Schwäche
des Werkes als Drama: es sind zuviel Gedanken und Symbole und Bilder
Theater.
und Motive hineingewebt, es fehlt das Rückgrat ein
schen Willens. Im einzelnen wird unser Genuß
nur selten gestört, so durch das aufdrit gliche Zu
erbungsschnüffler: daß die Mutter der Beatricea
der Vater als irrsinnig geschildert wird, eine Aberfl
des Dramas, wenn man tiefer hinlauscht, widerst
haben es hier mit einer feinen, sehr bedeutenden
namentlich mit der gewaltigen Erhebung des trag
Akt einen tiefen Eindruck hinterläßt, und wenn nie
doch als Buch, als Gedankenfreund im Hause ei
deutschen Literatur ist, „rein und fein, dem Edelste
den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist.“
Es ist ein sehr bemerkenswerter Zug im liter
Tage, daß zu einer ähnlichen Auffassung der W
sendung wie Schnitzler im Schleier der Beatrice e
Ragenden unter den gegenwärtigen Dramatikern geh
ganz anderen Wegen nach Sonderheit seiner Beanlag
seiner Dichtung „Pelleas und =Melisande“
hier das Rätselhafte, Traumhafte, Anbewußte in
schildern, haben ohnehin viel Gemeinsames, man sieh
ersten Blick, weil sie sich eben auf dem Grunde ihr
Der Kampf zwischen Todesangst und Liebe ist eines
Schnitzlerschen Werke. And Maeterlinck singt un
Dichtungen das eine Lied: daß wir Menschlein an
beugsamen Spielen, die Tod und Liebe mit den
ändern können ... Auch in „Pelleas und Melisa
klagende Leitmotiv, das wie der stete dumpfbrausen
der Szene brandenden Meeres die Dichtung von d
Zeile begleitet.
Das Drama ist 1892 entstanden und obwohl
gelegentlich aufgeführt, ist es doch in diesem Win
dramatischen Bedeutung gelangt, dank einer außen
Inszenierung, die Max Reinhardt, der jetzige Direkt
unter Mitarbeit der Maler Louis Corinth und
glänzendem künstlerischem Erfolg ins Werk setzte.
Drama eines bekannten Dichters auf Verständn
warten müssen — ein beschämender Beweis für die
kaum einer Ausnahme Geschäftsbühnen statt Kunstb
und das wunderliche Schicksal will es, daß ge
Dichtung zu neuem Leben erwacht, ihr Dichter selbe
Lustren, auf einem anderen Pol seiner Kunst angelg
dem Dunkte steht, sie zu verleugnen. In der Vor#
ausgabe seiner dramatischen Werke, die Herr vo
besorgt hat (Leipzig, E. Diederichs), sagt Maete
blick auf seine früheren Dramen, Pelleas und 2
heute scheint mir das alles nicht mehr
dem Lyriker vielleicht erlaubt, etwas wie ein Theoy