II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 461

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14. Der Schleier der Beatrice
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Der Dichter des Schweigens, (si tacuisset!) der Schicksalsdeuter, noch) die sogenannten berufenen Vertreter des litterarischen
sei durchaus nicht untergegangen, „Monna Vanna“ strecke ihre
Jungdeutschland für eine linelarische That von unerhörter
Arme in das dritte Reich, in die Traum= und Ahnungstiefen
Kühnheit. Nur gut, daß unser Dichter nicht auch malt,
des Unerklärlichen und Unaussprechlichen. — Also doch! —
er wurde uns sonst vielleicht eines Tages mit einer
Das eine wollen wir zugeben: der Schwätzer Maeterlink ist
„Kuhmagd ihre Hühneraugen schneidend“ erfreuen.
derselbe geblieben. Und dies Konstatieren des Schwatzens im
Durchaus ernst zu nehmende Zeitungen wie die „Frank¬
Gegensatz zu künstlerischer Plastik enthebt uns von vornherein
furter“ hatten es nicht nur in ihren Referaten nicht verschmäht,
des Anl##ns jeden er##sthaften Maßstabes. Das hindert na¬
das Hottentottengeschwätz Wedekind'scher Dialoge im „Erdgeist“.
türlichand, zu sagen, daß in „Monna Vanna“ alles wie
„Fritz Schwigerling“ u. s. w. als Kunst zu bezeichnen, sie
aus dem Stein gehauen erscheint, daß der Dichter markante
haben es auch unbegreiflicher Weise nicht unterlassen, von den
Profile geschaffen u. s. w. Man vernimmt Klänge aus
Leistungen der „Elf Scharfrichter“ in einer Weise zu sprechen,
Dantes „Göttlicher Comödie“ man betrachtet „Monna Vanna“
die in jedem Unbefangenen den Glauben aufkommen lassen
mit andächtigem Staunen, vermißt aber schmerzlich jene
mußte, es handele sich dort wirklich um künstlerische Dar¬
schluchzenden Untertöne der früperen Stücke, die in ihrer Zart¬
bietungen. Wenn man schon für das Herrn Wedekind (und
heit seinen Spinngeweben gleichen, und man nennt Maeter¬
auch den M. 4.— Eintrittsgeld zahlenden) so teuere Original¬
link einen Eklektiker und Könner von ureigenem Empfinden,
gemach der „Scharfrichter“ (von denen nur Herr Rechtsan¬
einen reinen Meister, der dem Theater seine spekulative Nie¬
walt a. D. Kothe wirklich künstlerisches bietet) nicht das nötige
drigkeit nahm!!! Manche Streiter im Kampf um die erhabenen
Verständnis mitzubringen vermag und durch die ganze Auf¬
Trotteltypen vorehelicher Maeterlinkscher Geschäftspraxis beklagen
machung recht unliebsam an das Münchener Vierkellertum er¬
seine monströse Psychologie in „Monna Vanna“. Als w.nn der
innert wurde, so wuchs das Erstaunen ins Unermessene, wenn
überhaupt je von einer Psychologie eine blasse Ahnung gehabt
man diesen unsagbar öden Singsang, diese gänzlich witzlosen
hätte! Man sagt, der Meister sei seiner Seele untren geworden, die
Einakter über sich ergehen ließ. Herr Wedekind ist der Lieb¬
nun in einem blütenweißen Lilienkelche sitze, die zarten Flügel
ling des Publikums. Er ist der Erfinder eines unbeschreiblich
hängen ließe und weine. Dann: Maeterlink strebe in „Monna
originellen Tries: er singt die größten Zoten, ohne eine Miene
Vanna“nach dem am höchsten stehenden Vorläusigen. Dieser Passus
zu verziehen. Und das Publikum, das sich einesteils aus
ist des Dichters ureigenstes Produkt; er steht voll und ganz
Nervengigerln, nymphonanischen Weibern, Bierbrüdern und
auf der Höhe Maeterlink'schen Gewäsches, das natürlich mit
Neugierigen, anderenteils aus etwas ganz anderes erwartenden
Andacht nachgebetet wird. Man spricht auch bei dieser Ge¬
Durchreisenden zusammensetzt, quiekst, stöhnt und brüllt vor
legenheit wieder mit Ekstase von dem „Schatz der Armen“
Vergnügen.
jenem ehrwürdigen Monument stilisierten Blödsinns und bringt
Wenn ich sage, der Wedekind singt Zoten, so ist das
dies und anderes in Verbindung mit der Wandlung Macter¬
nicht ganz korrekt. Ist schon die platte Zote im Gegensatz zu
link'scher Weltanschauung! Wer da nicht lacht, dem ist über¬
dem auf erotischen Pointen berubenden wirklichen Witz ein
haupt nicht mehr zu helfen.
Gewächs, bei dem das geschlechtliche Selbstzweck, so ist das,
was dieser Verherrlicher potenzierter Animalität besingt, noch
Also, er schenkte uns etwas Neues, ein Drama, das zwar
um ein beträchtliches tiefer stehend. Er beschäftigt sich zwar
geradess wie seine frühere „Kunst“ nichts weiter war als eine
auch, wie man das von seiner „Eigenart“ nicht anders er¬
Spekulation auf die Herdeninstinkte, sich aber — wer wollte
warten kann, mit Vorliebe, mit dem arg reduzierten Trieb¬
das einem findigen Litteraturkrämer verargen — diesmal an
leben alter Herren, daneben hat er aber auch ein neues Genre
die unabsehbare Gemeinde derjenigen wandte, die das Theater
aufgebracht: er verweilt mit innigstem Behagen bei dem
als geeignetsten Ort betrachten, um sich die für die kommende
Liebesleben der Hunde. Man denke welch neues, erschüttern¬
Nacht erwünschten Sensationen auf beqnemem Wege zu ver¬
des litterarisches Beginnen!
schaffen. Rudolf von Gottschall hat entschieden recht, wenn
Wenn Menschen, die infolge ihrer, sei es ererbten, sei
er sagt, hinter Maeterlink habe, während er sein
es erworbenen traurigen Verfassung ihres Nervensystems einen
Stück schrieb, seine Gattin ohne Mantel gestanden. Nach der
unwiderstehlichen Drang in sich fühlen, ihren Mitmenschen ihre
hundertsten Aufführung von „Monna Vanna“ im Deutschen
Machwerke vorzusetzen, so kann das den litterarisch inter¬
Theater beschloß unser Dichter das Geure Nr. 2 vorläufig
essierten wenig berühren. Möge Herr Wedekind in den ihm
weiter zu pflegen: er droht mit einer „Versuchung des heiligen
nahestehenden Kreisen heute ein präderastisches, morgen ein so¬
Autonius“ bei der diesmal im Lichte der Wahrscheinlichkeit
domitisches Epos vortragen. Wenn uns aber Leute, wie er,
mehrere Mäntel definitiv fallen werden. Nach der fünf¬
in unbegreiflicher Verkennung ihres Berufes, zumuten, das
hundertsten Aufführung dieses „europäischen Ereignisses“ dürfte
oben charakterisierte als Kunstleistung zu würdigen, und sich
dann der Zeitpunkt gekommen erscheinen, sich mit dem Circus
Abend für Abend ein Publikum findet, das Herrn Wedekind
Schumann in Verbindung zu setzen, um weitere Lieferungen
nicht mit faulen Eiern bewirft, dann kann man sich wahrlich
an Entkleidungskunstwerken für ihn zu vereinbaren.
auch kaum noch über jene Leute wundern, die diesem poëta
Dann das zweite Vorbild für Herrn Schnitzter: Frank
phallus eher als einem Schnitzler gerecht zu werden vermögen.
Wedekind! Wenn man tagaus tagein vernimmt, daß wir es
hier mit einem Dichter (nicht etwa mit einem mit erotischen
Zwangsvorstellungen behafteten Neurotiker hoffnungslosester
Sorte) zu thun haben, mit einem Renaissancemenschen, einem
zweiten Aretin — dann löst sich etwa schon aufgestiegener
HEATERBRIEFE,

Unmut in heftige Fröhlichkeit. Eine herrorragende Persönlich¬
keit dieser Frank Wedekind. Und erst der Esprit, über den er ver¬
Berlin. Im Thaliatheatereröffnete das Berliner Schau¬
fügt! So hat er die Gewohnheit, die ich aus latenter Per¬
versität oft an ihn drängenden Littero
spiel= und Lustspiel=Ensemble unter der Direktion von William
ner und hysterischen
Cabaretbesucherinnen zu fra#
Löwe ein auf mehrere Wochen berechnetes Gastspiel mir
seien.
Lauffs Schwank „Ein toller Einfall“.
Welcher Witz! Ueber solch
ver¬
Da in diesen Vorstellungen unser Chefredakteur mitwirkt, können
fügt. Wedekind blieb es
wir über dieselben eigene Referate nicht bringen und drucken nachstehend
verwerten, was man fra¬
wörtlich die Kritik des Berliner Lokalanzeigers No. 253 vom 3. 6. 03
und das hielten damals
ab, welche lautet: