II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 25

11. Reigen
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Alex. Welgl’s Unternehmen für Zeitungs-Aussohnitte
Ausschnitt
„OBSERYER
71
I. österr. behördk conc. Bureau für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien. I., Concondiaplarz 4.
Vertretungen in Berlin, Budapest, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom,
Stockholm, Kristiania, St. Petersburg.
Ausschnitt aus:
Arbeiter Zeitung. Wien
vom:
4160 5
*Reigen. Vor einiger Zeit hat ein Buch eines Wiener
„Schriftstell=#u das den Titel „Reigen“ führte, viel Gerede
(verursacht. Mgalt als pikanteste Neuheit auf dem Büchermarkt,
erlebte ein. Auflage nach der anderen, und dieser Erfolg war
eigentlich weniger der Kunst und den Gedanken, die in dem
Werke steckten, zu danken, als vielmehr seinep vermeintlichen
Kühnheit. Da war geschildert, wie sich der Graf, der Gatte, der
Liebhaber, die anständige Frau, das süße Mädel und die
Straßendirne im heimlichsten Moment ihrer Existenz, im Moment
der Hingabe, benimmt und äußert. Von den Liebespaaren wurde¬
je eine Gestalt in zwei Szenen vorgeführt, im legitimen Ebebett
und im unerlaubten Verhältnis. So verbanden sich Graf und
inclusive
Gatte und Liebhaber und süßes Mädel und Straßendirne zu
Porto.
einem Reigen. Allzuviel Witz steckte in dem Gruppenbilde nicht
Zahlbar
und im Grunde war auch die „Kühnheit“ des Werkes weder von
im Voraus.
besonderer psychologischer noch moralischer Tiefe. Wenn trotzden
litte ist das
große Leserkreise sich an diesem Reigen neugierig zusammen¬
steht es den
schlossen, so geschah's hauptsächlich aus dem unerbittlichen
Indern.
Behagen an der Pikanterie, das dem Bourgeois nun
einmal zu eigen ist. Wie viel Schrecknisse, wie viel uthaltend die
Bitternis in diesem unheimlichen Reigen der Paare, das hatte
Morgen¬
zner Zeitung")
der mehr zur glatten Liebenswürdigkeit neigende Dichter nicht
irthschaftliche
einmal anzudeuten gewußt. Eine Ahnung von dem wirklichen, d.
Diese Mit¬
nicht pikant vom Schriftsteller arrangierten, sondern vom Leben
grausam aneinandergefügten Reigen der Geschlechter bot eine
Gerichtsverhandlung, die gestern vor einem Wiener Bezirksgericht
stattfand. Im „Gerichtssaal“ findet der Leser den Bericht. Da
liest man, daß eines Tages ein Schulknabe mit einer Geschlechts¬
krankheit in ein Wiener Spital gebracht wird. Entsetzt ver¬
ständigen die Aerzte die Polizei, die nun — dem Ursprunge der
Krankheit nachforschend — einen ganzen Reigen dreizehn= und
vierzehnjähriger Kinder in den Gerichtssaal zieht. Schauerlich
ist der Hintergrund dieses Schauspiels: eine Wohnung von
einem Zimmer, einem Kabinett und Küche, die als Nachtasyl für
Kinder dient! Da schlafen drei Kinder in einem Bette, zwei
Mädchen und ein Knabe, daneben auf dem Ofen schläft ein vier¬
zehnjähriger Junge und auf dem Boden vor dem Ofen hat
sich noch ein fünftes Kind hingestreckt. Entlaufene, obdachlose,
vervorbene Kinder liegen da beisammen. Einem der Mädchen hat
der Knabe seine Krankheit zu verdanken. Also ist das dreizehn¬
jährige Mädchen selbst krank. Woher aber stammt ihr: Erkrankung?
Juerst nahm man an, von einem der Jungen, die beim Ofen liegen.
Aber da stellt sich heraus, daß sich mitten in diesen Elendsschmutz
auch ein Offizier verloren hat, der die Dreizehnjährige krank
gemacht hat. Wahrlich, ein grausiger Reigen, wie ihn kein
Dostojewsky darzustellen wagte! Zweifellos ein ganz außer¬
gewöhnliches Bild jugendlicher Verkommenheiten und die glaub¬
würdigste Figur in diesem Höllengemälde, wer anders ist die
als jener Offizier, der sich mit einemaverlotterten dreizehnjährigen
Mädchen einläßt? Ach, was die Stillung des Geschlechtsdurstes
anlangt, so trinken gerade die Leute in den glänzendsten Uniformen
gern aus den trübsten Quellen! Da führen zuweilen von den
adeligsten Kasinos zu den fürchterlichsten Massenquartieren direkte
Wege! Als man die Dreizehnjährige nach der Wohnung jenes
Offiziers fragte, erwiderte sie: „Wann ma mit'n Schubwagen
durch die Favoritenstraß'n fahrt, kommt ma vorüber.“ Vielleicht
will's ein glücklicher Zufall, daß der Herr Offizier morgen
gemütlich zum Fenster hinausschaut, wenn das Mädchen wieder
im Zellenwagen an seinem Hause vorbeigebracht wird. Oder
vielleicht findet man ihn Abends auf dem Korso der Vornehmen auf
der Ringstraße. Der Reigen im Gerichtssaal wäre nicht komplett,
wenn diese Gestalt, die vorläusig nur unter dem Titel „der
Offizier“ auftritt, nicht mit vollem Namen neben der Kupplerin
und den der Schändung angeklagten Knaben vor den Gerichts¬
schranken-stände!