II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 36

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11. Reigen
eilungsnachrichten-

Adolf Schustermann
Blumen-Strasse 30-81
Tel.-Adr.: Adressenhaus Berlin. Telephon: Amt VII No. 1555.

Zehrzeng. Königsberger Hartung'sche Zeitung
3.5
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Adrere: Königsberg i. Pr.
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18. 7.

92
Datum:
7
Neue Belletristik.
S 4 5
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III.*)
„Geh'ns, Sie Schlimmer“ sagt das Wiener Waschermadel
wenn ein Kavalier gar zu keck zu ihr wird, und man weiß nicht,

ob sie ihn nicht noch schlimmer finden würde, wenn er wirklich
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ginge. Mit dieser Nuance möchten wir das uns heut zur Auf¬


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arbeitung vorliegende Pensum belletristischer Neuheiten als
„schlimme Literatur“ bezeichnen. Es ist eine nackte, mindestens
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überstark dekolletierte, kitzlige, herausfordernde Literatur, die
der Absicht nach — mit der Kunst ja noch überall an einem Faden
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zusammenhängt und die wir keineswegs den Heinzemännern denun¬
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ziert sehen möchten, aber diese Literatur scheint nicht mehr für
Junggesellen, sondern nachgerade nur noch für jene Greise be¬

timmt, die einst die keusche Susanna im Bade belästigten und auch
heute allweil nach einer kleinen Aufmunterung ihres Humors
schmachten. Der Wert dieser erstaunlichen und oft noch dazu in
erstaunliche Umschläge zehüllten dekadenten Greisenlektüre ist sehr
I
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gering und setzt sich zumeist auf großen Bahnhöfen in bare Münze
Zeit-Abor
um, und das ist für das Geure charakteristisch.
Arthur Schnitzler, dem obersten Bekenner vornehmster Natur¬
wahrheit in Wien,uter den Erzeugern solcher Juxartikel zu be¬
gegnen, hat uns nicht erfreut. Wohl kennen wir seinen „Anatol“
und wissen daher, wie scharf gespannte Saiten der Autor an¬
schlagen kann, wenn er die erotischen Kapricen des Salons be¬
singt, aber dieser „Reigen“ (Wiener Verlag, Wien und Leipzig),
den Schnitzler ausdrücklich für die literarischen Lüstlinge der raffi¬
niertesten Sommerbäder instrumentiert zu haben scheint, ist noch etwas
ganz anderes. Mit einem Wort zu sagen: ihn zu charakterisieren
gibt es nur ein Wort, welches sich nicht sagen läßt, und welches der
Sittenschilderer dieser von keinem kleinsten Feigenblättchen beschatteten
Massenorgie zehnmal wiederholen müßte. „Reigen“ ist nämlich
eine Kette von zehn kurzen, aber inhaltreichen Dialogen zwischen
Männlein und Fräulein, in der Er oder Sie der nächsten Sie oder
dem nächsten Er gewissermaßen die vom Vorgänger noch warmen
Hände oder Lippen reicht — eine chaine anglaise des Liebes¬
genusses. Die Dirne — der Soldat; der Soldat — das Stuben¬
mädchen; das Stubenmädchen — der junge Herr; der junge Herr
die junge Frau; die junge Frau — der Gatte; der Gatte
das süße Mädel; das süße Mädel — der Dichter; der Dichter
ant
die Schauspielerin; die Schauspielerin — der Graf; der
Ein
Graf — — die Dirne. Das ist das Personal der zehn Szenen,
abe
die in genialer Gleichmäßigkeit und delektierender Variation auf
von
denselben Punkt und dieselben Gedankenstriche hinausführen. Die
zuf
Gedankenstriche (bald weniger bald mehr) sind die eigentliche
Jan
Handlung und zugleich die Katastrophe in diesen Dramoletchen.
ch
Ihre Exposition kann nicht verständlicher, nicht durchsichtiger sein,
wir
die liebe Natur in ihrer ganzen, teils nackten, teils im Auskleiden
daß
Sti
begriffenen Bedürftigkeit; ihre Steigerung ein ungehemmtes
Aufwallen sehr bekannter, aber in der Kunst bisher
immer noch ein bischen beschönigter Instinkte, und der
anz
Schluß eine Abkühlung, in der selbst das glühendste Du
Omne animal triste
zum eisig konventionellen Sie erfriert.
Die Beobachtung des
— sagen wir Dichters ist von einer benei¬
denswerten Tiefe und Lückenlosigkeit, die Kunst, all diese Pärchen
im süßen Wiener Deutsch der „Situation“ und ihrer Individualität
sal
gemäß mit einander plauschen oder konversieren zu lassen, schlecht¬
alt
hin bewundernswert und auch ein Stückchen moderner Kultur.
erst
Wie das Stubenmädel, die Grisette, wie namentlich die Schau¬
rich
spielerin, eine „berühmte Tragödin“, alles Unsagbare sagt das ist
des
eine Offenbarung dieses Departements der „weiblichen Seele
Die Daseinsberechtigung der Schnitzlerschen Dialoge liegt in ihrem
Dialog. Sonst würden sie sich am Ende doch besser zu einem
Separatdruck für persönliche Freunde geeignet haben. Und nun
nich
gar jene Münchener literarische (!) Gesellschaft, die bereits drei
Wi
dieser intimsten Genrebilder mit Abmeißelung der Pointen auf ihre
Fre
Vereinsbühne gebracht hat! Bedurfte es für den Künstler Arthur
nes
Schnitzler einer Strafe, so ist sie ihm mit dieser Einrichtung seines
Sa
Reigen für Pensionate zu teil geworden.
hin
zu
Der Name eines Schriftstellers von Klang, Octave Mir¬
run
die
beau, steht auch vor dem Bändchen novelli##ischer Stizzev,
unter dem anlockenden Titel „Laster“ in eichen Verlage als
star
Band 5 der „Bibliothek berühmter Autore, erschienen sind. Der
und
Pariser Mirbeau, der in Maupassants und révosts Spuren wan¬
sich
delt, hat mit seinem fast frechen „Tagebuch einer Kammerjungfer
und seinen zum größten Teil brillanten „Bauernnovellen“
in
Deutschland Verständnis gefunden. Für die hier vorliegende! Au