11. Reigen
#.
box 17/1
Ein unsittliches Buch?
Es gehört mit zu den Unbegreiflichkeiten der Literatur, dass
ein Buch wie Arthur Schnitzler’s sReigene nicht schon
früher geschrieben wurde. So naheliegend, fast selbstverständlich
scheint seine ldee. Aber das Merkwürdige an dem Ei des
Columbus ist es eben, dass ein Columbus kommen muss,
um es aufzustellen.
Schnitzler hat den Geschlechtsact der Literatur erobert.
Dazu gehört weniger Kühnheit als es scheint und mehr Ge¬
schmack. Dem landläufigen heuchlerischen „ldealismust, der in
der Geschlechtsvereinigung etwas Unanständiges sieht, von dem
man in gguter Gesellschafte — und die Kunst ist doch nur das
geistige Dessert der guten Gesellschaft — nicht sprechen darf,
stellt er die Realität des Tatsächlichen entgegen. Indem er der
Sinnlichkei, ihr Recht gibt, erscheinen vor seinem Künstlerauge
neue Komödien, die noch niemand zu sehen wagte. Es wären
wohl aus ihr auch Tragödien zu schreiben und einzelne tiefe
Stellen in den Scenen zeigen, dass sich der Dichter dessen wohl
bewusst war. Vielleicht bescheert er uns diese Gabe noch. Enist¬
weilen begnügt er sich, mit leichten und boshaften Strichen die
Verirrungen und Verzückungen der Geilheit aufzuzeichnen. Wie
Marionetten ziehen seine Menschlein vorüber, gelenkt an den
Drähten ihrer Begierde.
Die erstaunliche Feinheit dieser Actstudien ersieht man am
besten aus der psychologischen Gewandheit, mit der uns der
Arzt Schnitzler alle Verbildungen und dünnsten Verästelungen
der Leidenschaften zeigt. Denn kein Gefühl ist ja rein, es ist
immer mit anderen verwachsen, wird durch sie verändert, diffe¬
renziert. Die reine Sinnlichkeit, nur völlig gesunden Leuten eigen,
ist in unserer lasterhaften Zivilisation so selten geworden wie
die Gesundheit. So sehen wir auch an den Figuren des -Rei¬
genst, wie sich mit ihrer Begierde Eitelkeit mengt. Der junge
Mann will eine anständige Frau als Geliebte haben und, fast
ohne Wunsch, nur um sich seine Weltmannqualitäten zu be¬
stätigen, kommt er zu seinem Verhältnis. Für diese kühlen Naturen
entscheidet weniger die Begierde als das Verlangen ihr Leben
auszufüllen, Romane zu erleben. Die -Schauspielerine will ver¬
blüffen, der „Dichtere um seinerfselbst willen geliebt sein. Wie
sie aber der eigenen Eitelkeit nicht entfliehen können und sich
in ihren Schlingen abzappeln, das ist nun ein höchst ergötzlicher
Anblick. Von dem Höchsten des Lebens, der Liebe, fallen
Schleier auf Schleier; nur ein höchst unrespektables, armseliges
Etwas bleibt zurück. Das Ende eines Götzen.
Und neben diesen Einzelkomödien spielt sich die grosse,
allgemeine ab: der Kampf der Geschlechter. Auch er, der sonst
so viel Tränen und Schmutz mit sich bringt, ist hier nur von
seiner heiteren Seite gesehen. Eine Selbstbeschränkung, welche
die feinsten Wirkungen zur Folge hat. Welch’ köstliches Duell
zwischen Mann und Weib! Wie wird seine ungeschickt täppische
Selbstsucht von der Frau mit leichten Listen und Lügen über¬
tölpelt und schliesslich doch zu den beiden erwünschten Zielen
geleitet. Und zu denken, dass hinter allen diesen Raffinements
immer die unbeirrbare Natur steht, das grosse Ziel der Gattung
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box 17/1
Ein unsittliches Buch?
Es gehört mit zu den Unbegreiflichkeiten der Literatur, dass
ein Buch wie Arthur Schnitzler’s sReigene nicht schon
früher geschrieben wurde. So naheliegend, fast selbstverständlich
scheint seine ldee. Aber das Merkwürdige an dem Ei des
Columbus ist es eben, dass ein Columbus kommen muss,
um es aufzustellen.
Schnitzler hat den Geschlechtsact der Literatur erobert.
Dazu gehört weniger Kühnheit als es scheint und mehr Ge¬
schmack. Dem landläufigen heuchlerischen „ldealismust, der in
der Geschlechtsvereinigung etwas Unanständiges sieht, von dem
man in gguter Gesellschafte — und die Kunst ist doch nur das
geistige Dessert der guten Gesellschaft — nicht sprechen darf,
stellt er die Realität des Tatsächlichen entgegen. Indem er der
Sinnlichkei, ihr Recht gibt, erscheinen vor seinem Künstlerauge
neue Komödien, die noch niemand zu sehen wagte. Es wären
wohl aus ihr auch Tragödien zu schreiben und einzelne tiefe
Stellen in den Scenen zeigen, dass sich der Dichter dessen wohl
bewusst war. Vielleicht bescheert er uns diese Gabe noch. Enist¬
weilen begnügt er sich, mit leichten und boshaften Strichen die
Verirrungen und Verzückungen der Geilheit aufzuzeichnen. Wie
Marionetten ziehen seine Menschlein vorüber, gelenkt an den
Drähten ihrer Begierde.
Die erstaunliche Feinheit dieser Actstudien ersieht man am
besten aus der psychologischen Gewandheit, mit der uns der
Arzt Schnitzler alle Verbildungen und dünnsten Verästelungen
der Leidenschaften zeigt. Denn kein Gefühl ist ja rein, es ist
immer mit anderen verwachsen, wird durch sie verändert, diffe¬
renziert. Die reine Sinnlichkeit, nur völlig gesunden Leuten eigen,
ist in unserer lasterhaften Zivilisation so selten geworden wie
die Gesundheit. So sehen wir auch an den Figuren des -Rei¬
genst, wie sich mit ihrer Begierde Eitelkeit mengt. Der junge
Mann will eine anständige Frau als Geliebte haben und, fast
ohne Wunsch, nur um sich seine Weltmannqualitäten zu be¬
stätigen, kommt er zu seinem Verhältnis. Für diese kühlen Naturen
entscheidet weniger die Begierde als das Verlangen ihr Leben
auszufüllen, Romane zu erleben. Die -Schauspielerine will ver¬
blüffen, der „Dichtere um seinerfselbst willen geliebt sein. Wie
sie aber der eigenen Eitelkeit nicht entfliehen können und sich
in ihren Schlingen abzappeln, das ist nun ein höchst ergötzlicher
Anblick. Von dem Höchsten des Lebens, der Liebe, fallen
Schleier auf Schleier; nur ein höchst unrespektables, armseliges
Etwas bleibt zurück. Das Ende eines Götzen.
Und neben diesen Einzelkomödien spielt sich die grosse,
allgemeine ab: der Kampf der Geschlechter. Auch er, der sonst
so viel Tränen und Schmutz mit sich bringt, ist hier nur von
seiner heiteren Seite gesehen. Eine Selbstbeschränkung, welche
die feinsten Wirkungen zur Folge hat. Welch’ köstliches Duell
zwischen Mann und Weib! Wie wird seine ungeschickt täppische
Selbstsucht von der Frau mit leichten Listen und Lügen über¬
tölpelt und schliesslich doch zu den beiden erwünschten Zielen
geleitet. Und zu denken, dass hinter allen diesen Raffinements
immer die unbeirrbare Natur steht, das grosse Ziel der Gattung