II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 49

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Jeuilleton.
0 Perverse Literatur.
(Harmlose Marginalien zur Tagesgeschichte.)
Wären die allermodernsten ungarischen Roman
und Novellen so geistvoll, spannend und werthvoll, wie
ihre Autoren glauben — und das will schon etwas
agen — auch dann hätten diese Werk lange nicht
jenen Erfolg, welchen Bücher ähnlicher Art in Eng¬
and, Frankreich oder Deutschland erringen. Die Er¬
klärung dafür liegt auf der flachen Hand. Frankreich
besitzt 40, Deutschland 50, Englau# mit seinen Kolo
nien gar 300 Millionen Einwohner, Ungarn jedock
nicht einmal 20 Millionen und von diesen zwanzig
Millionen wollen nur die Wenigsten Bücher lesen,
geschweige denn kaufen. Seitdem die Kreuzer=Zeitun¬
gen erfunden wurden, meinen Viele, daß sie ihren
Pflichten der ungarischen Literatur gegenüber schon
„voll und ganz“ gerecht werden, wenn sie von Zei
zu Zeit ein solches Blättchen erwerben und demonstrativ
in einem Waggon der elektrischen Stadtbahn lesen.
Ein belletristisches Werk, das einige Auflagen erlebt,
gehört in Ungarn zu den Seltenheiten und wenn man
bei uns erfährt, daß von Freussens „Jörn Uhl“ über
100.000 Exemplare und von Beyerleins „Jena oder
Sedan?“ nahezu 200.000 Exemplare verkauft wur¬
den, so muß man sich sagen, daß selbst weit bessere unga¬
rische Romane keinen annähernd großen Erfolg
erzielen könnten. Ja, nicht einmal schlechtere oder
ganz schlechte Bücher. Denn es gehört zu den Eigen¬
thümlichkeiten der neuesten literarischen Erfolge, daß
in und wieder die erbärmlichsten Bücher einen aus¬
jezeichneten Absatz finden und daß es also just die
schlechtesten Birnen sind, an denen die Wespen nagen.
Eben jetzt sehen wir wieder, daß drei deutsche Bücher
immer wieder in neuen Auflagen erscheinen und es
cheint sogar, daß diese Werke auch in Ungarn viel
mehr gelesen wurden und werden, als sie verdienen.
Das erste dieser Werke: Bilses Roman „Aus einer
kleinen Garnison“ soll in 250.000 Exemplaren ver¬
kauft worden sein, das zweite: die Novelle „Nixchen
von Hans von Kahlenberg soll angeblich über 100.000
Käufer gefunden haben und vom dritten: dem Novel¬
encyklus „Reigen“ von Arthur Schnitzler dürften be¬
reits 50.000 Exemplare an den Mann — wir wollen
gar nicht annehmen: die Frau — gebracht worden sein.
Das schlechteste und werthloseste dieser drei Werke
ist Bilses viel besprochener Roman: „Aus einer klei¬
ien Garnison“. Man kann sich kaum ein stümper¬
hafteres Werk vorstellen. Einige Kasernengeschichten,
ie in einer so erbärmlichen Sprache erzählt werden,
daß sie die Xenien beschämen, welche bekanntlich be¬
aupten, daß die deutsche Sprache „dichtet und denkt“
und einige Kasernenwitze, über welche vielleicht Unter¬
offiziere lachen, aber auch nur, wenn sie von höheren
Offizieren erzählt werden. Die Achse
— Bilse
chreibt „modern“ Axe — um welchen sich der ganze
Roman dreht, ist das Los des Offiziers in einem
kleinen Nest. Doch wie jämmerlich wird dies be¬
chrieben. Der gute alte Hackländer stand thurmhock
über Bilse und auch der flotte Schicht (Baudissin) ist
ein Meister neben diesem armseligen Dilettanten. Frei¬
lich hat der Verfasser des Romans: „Aus einer klei¬
nen Garnison“ einige Vorzüge vor allen seinen Kon¬
kurrenten voraus. Sein Roman wourde nämlich ver¬
boten und er selbst eingesperrt. Eine solche Reklame
scheint auch dem ödesten Roman zu einem außeror¬
dentlichen Succeß zu verhelfen. Man kann allen deut¬
chen Dichtern, die durch ihr Talent bisher auf keinen
grünen Zweig gebracht wurden, blos empfehlen, sich
mit dem Staatsanwalt ins Einvernehmen zu setzen.
Konfiszirt er ihre Bücher, so ist es ein Erfolg; kon¬
iszirt er gar den Autor, so ist es ein Triumph.
Fräulein Mombert, eine junge Dame aus sehr
guter Familie, die unter dem Namen Hans von Kah¬
enberg einige Novellen — zumeist hübsche Frauen¬
Handarbeit — veröffentlichte und in den weitesten
Kreisen unbekannt blieb, hat das Glück gehabt, von
Die heutige Nummer umfaßt 16 Seiten.
einem Staatsanwalt bemerkt zu werden. Dieser gute
Mann las das „Nixchen“ und ließ es konfisziren. Die
Folge davon war ein journalistischer Kampf gegen
und für das „Nixchen“ und ein enormer buchhänd¬
lerischer Erfolg. Liest man das Buch, so muß man
zugeben, daß es von keinem jungen Mädchen gelesen
verden sollte: — nicht einmal geschrieben. Ein Back¬
fisch wird nämlich darin nach allen Regeln der Kunst
dekolletirt und es wird den verehrten Leserinen und
Lesern kundgethan, wie sittenlos, verlogen und schlecht
eine solche kleine Kröte sein kann. Das Buch enthält
in Dutzend Briefe, die zwei Freunde einander schrei¬
ben. Der Eine ist in ein Backfischlein verliebt, das er
als heilige Knospe verehrt, der Andere liebelt mit
einem Backfischlein, das bei Marcel Provosts Halb¬
jungfrauen in die Schule gegangen ist. Der Leser weiß
sofort, daß die keusche Braut des einen Freundes
nit dem frivolen Schätzchen des anderen Freundes
dentisch ist und er wundert sich nur über die Naive¬
ät des Bräutigams, der seine holde Unschuld nicht
erkennt, obwohl sein Freund ein sehr genaues Konterfei
derselben gibt und nicht einmal die intimsten Detail¬
verschweigt. Die Briefe des Bräutigams zeigen einen
Ueberfluß an Güte und Dummheit, die Briefe sei¬
nes Freundes einen Ueberfluß an Gemeinheit und
Roheit. Das ganze „Nixchen“ ist ein Gemisch von
Einfalt und Cynismus, von Orangenblüthen und
Patschuli. Hans von Kahlenberg mag sich noch so
sehr bemühen, Flaubert, Balzac, Maupassant, Prevost
und die Gyp zu übergipfeln,
— sein „Nixchen“ er¬
nnert doch nur an die Phantasien eines jungen Pen¬
ionatsfräuleins, welches den Boccaccio heimlich ge¬
lesen hat.
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Unvergleichlich höher als Bilse und der platonische
Don Inan Namens Hans von Kahlenberg steht Arthur
Schnitzler. Bilse ist ein talentloser Dilettant, Fräulein
Mombert eine talentvolle Dilettantin, doch Schnitzler
ein Poet, ein hochbegabter Dichter sogar. Auch im
„Reigen“ kommen die glänzenden Eigenschaften
Schnitzlers zur Geltung: seine Beobachtungsgabe, sein