II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 55

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Reigen
Das sind offenkundige Dinge, aber im Reichstag ist ge¬
rade auf seiten der sogenannten „Volks“parteien „Lärm“,
wenn einer um Hilfe gegen diese Verseuchung unseres Volkes
mit Schmutzliteratur ruft. Dabei braucht man nur die An¬
kündigungen der betreffenden Verleger, die Verlockung durch
außergewöhnliche Rabattsätze wie der genannte Verfasser sie
aufzählt, nachzulesen, um zu sehen, wie schamlos hier auf
die niedersten Instinkte spekuliert wird. Und das soll man
sich nun einfach so ganz wehrlos gefallen lassen, weil es
unter der Flagge Kunst und Wissenschaft segelt? Nein, da
hat sicher Pflugk=Harttung mit seiner Mahnung Recht:
„Alle ehrlich und vaterländisch denkenden Menschen, voran
die Buchhändler, sollten sich verbünden, um die tatsächliche
und geistige Verbreitung der krankhaften Ausschreitungen zu
bekämpfen, vielleicht mit Unterstützung des Staates; trotz
allen darob entstehenden Gezeters. Aufklärung und Erkennt¬
nis sind kostbare Güter, aber nur dann, wenn sie zur geisti¬
gen Befreiung führen und nicht zur sinnlichen Fesselung, und
gerade diese ist es, in welche die trübseligen Sumpfgewächse
neuester Fabrik hineinbetäuben. Wie leicht wird nicht in ein
unreifes, angekranktes Gemüt durch obige „flott geschriebene“
Lektürg ein unteliger und verderbenzeiligender Keim gelegt.
Wie gefährlich ist es, wenn klägliche Verirrung als etwas
Natürliches, Beglückendes noch poetisch verklärt wird wenn
der elende Lüstling erscheint als ein duldender, von der Welt
unverstandener Held. Versteigt man sich doch schon dahin,
olche widerwärtigen Ausgeburten als „modernes Geschlechts¬
leben“ zu bezeichnen.
Die beste Hilfe in diesem Kampfe wider die Porno¬
graphie sollte die Presse sein. Aber seltsamerweise versagen
dier auch viele jener Blätter denen nicht die Rücksicht auf
güt bezahlte Inserate den Mund verbietet. Nein, es ist
auch hier die Angst, ein Buch, das als Kunstwerk auftritt,
beim rechten Namen zu nennen. Ein Beweis dafür ist die
Behandlung von Schnitzlers „Reigen“. Es hat wenig daran
efehlt, daß nicht die Aufhebung des Münchener dramatischen
Vereins wegen Aufführung dieses Werkes zu einer Verge¬
waltigung der freien Kunst gestempelt wurde. Dabei hat
Schnitzler selber eingestanden, daß sein Buch nicht in die
Oeffentlichkeit passe, indem er es zuerst nur „als Manuskript“
drucken ließ. Aber wer wird auf ein solches Bombengeschäft
verzichten? 10000 Exemplare sind wohl schon überschritten.
Nun sehe man sich einmal die Verlagsanzeige an.
„Es ist ein charmantes Werk voll Anmut und Grazie..
Das scheint schon ein gewichtiges Lob und doch erklärt es
noch nicht, warum diesen 10 Dialogen ein Massenerfolg be¬
chieden war. „Reigen“
ist ein gewagtes, ein „frivoles“
Buch und sein Er'olg ist ein Pikanterie=Erfolg. Damit soll
beileibe nicht der Dichter getadelt werden. Die künstlerischen
Qualitäten der Gespräche haben mit dem Aufsehen das sie
erregen, nichts zu tun. Daß sich hinter den erotischen Er¬
eignissen dieser Szenen eine beinahe überfeinerte Psychologie
und eine vornehme lächelnde Menschenverachtung bergen,
merkt auch die in der Kunst ste's am Stoffe klebende Menge
nicht. Es sei ohne weiteres den nach Polizei schreienden
Tugendwächtern zugegeben, daß die Kühnheit der Dialoge
etwas Herausforderndes hat. Es sind zehn kleine Komödien
des Geschlechtstriebes, in deren Höhenpunkten der Dichter
stets zu schweigen und die Interpunktion zu reden beginnt.“
Würdig schließen sich einige Kritiken an:
„Neue Deutsche Rundschau": „Das Buch enthält Szenen.
Jede zwischen einer Frau und einem Mann. Jedesmal mit¬
tendrin eine Zeile von Gedankenstrichen. Ein wundervolles
Buch. Man schreit beim Lesen. .. Es ist ein kleiner De¬
kameron unserer Tage.
„Prager Tagblatt# ##### ist einzig in seiner
Art,
ja klassisch in seiner Art.“ Aber welcher Art?!)
Bühne und Welt": „Schnitzler hat in seinem Reigen
das gewagteste Buch unserer heutigen deutschen Literotur
und dennoch eine der keuschesten Dichtungen geschaffen, deren
ein blutvoller Künstler fähig ist.“
So ist's recht! Das gewagteste Buch, aber die keuscheste
Dichtung! Ja, die wirklich keuschen Seelen sind Dirnen,
Ehebrecher und perverse Lüstlinge.
Ich leugne gar nicht, daß das Buch vielleicht geistreich
und mit großem Geschick geschrieben ist. Aber es ist einfach
nicht wahr, daß Schmutzwasser zu Edelwein wird, wenn
man es in einem goldenen Becher bietet. Tacitus hat von
den alten Germanen gerühmt: „Nemo enim illic vitia
ridet.“ („Niemand macht sich dort über die Laster lustig.“)
Sollte diese Eigenschaft den heutigen Deutschen ganz ab¬
sein? Oder danken wir dieses
hanben gekommen
dem
Spielen
mit
Laster, diese schamlose Aus¬
Instinkte jenen Teilen unserer
nlutzung niederer
Bevölkerung, von denen die Germanen des Tacitus
noch frei waren? Prof. v. Pflugk nennt im genannten Ar¬
tikel als Verleger der trübseligen Literatur: M. Lilienthal,
J. G. Nissen, Inhaber Baruch, Gnadenfeld &. Cie,
H. Barsdorf, — wie man sieht, lauter undeutsche Namen.
K. St.
* Die religiöse Bewegung der Gegenwart. Der
Leipziger Historiker Professor Karl Lamprecht nimmt den
Anlauf, sich zu einem unserer großen Historiker auszuwachsen.
Darüber ist im allgemeinen kein Zweifel. Sein Name bedeutet
schon heute so viel wie ein Unterpfand dafür, daß nach Rankes,
Sybels, Treitschkes Tode die Kunst der großzügigen Geschichts¬
schreibung bei uns nicht aussterben wird. Mit diesen Bemerkungen
vollen wir künftiger und endgiltiger Wertung natürlich nicht
vorgreifen, aber es begreiflich machen, wenn wir einige furcht¬
lose Worte über Inhalt und Ziel der heutigen religiösen Be¬
begung hier zur weiteren Kenntnis geben. Sie finden
sich im neuesten Bande von Lamprechts „Deutscher Ge¬
schichte“ und sind an sich nicht neu, aber im Zusammenhange
eines Werkes, das nach dem Zeugnis des Prof. Fr. Zimmer
im „Tag“ vom 23. Febr.) mit der Absicht geschrieben wurde,
eine „Geschichte der deutschen Volksseele“ zu werden, jedenfalls
anerkennenswert.
„Wenn die Religionswissenschaft als moderne Theologie die
christliche Offenbarung so verändert auffaßt, kann sie sich da bei
dem Dogma und der Kirche des fortgebildeten Mittelalters, kann
sie sich auch nur bei dem Dogma und den Kirchen des 16. Jahr¬
hunderts beruhigen?
Die Frage erheischt die glatte Antwort: nein. Man spreche
aus, was Tausende und Abertausende, und nicht die Schlechten
und nicht die Ungebildeten, schon längst empfinden: der dog¬
matische Bestand und damit das Kirchentum des Katholizismus
und des Protestantismus sind gleich antiqniert — wir harren
des Neuen, das da kommen soll. Ja wir harren. Denn mit
nichten ist diese Zeit unfromm und göttlicher Ideale bar.
Fromm sind schon ihre Zweifel:
O, wenn ich wüßte, daß die Nacht
Nur dieses kurze Leben bliebe,
Daß über uns ein Auge schwebt
Mit ew'ger, grenzenloser Liebe!
Paula Dahm, Gedichte, 1902.
Und fromm sind erst recht ihre stillen, mystischen Gewi߬
heiten, die Sehnsucht ins Unendliche, der Drang nach Erlösung,
die innige Erhebung über Lust und Wehe dieses Seins, der
gläubige Optimismus, das Gebet hin zu neuen Höhen, von
denen die Hilfe kommen soll.
Freilich, diese Frömmigkeit, wie sie heute lebt, ist nicht
kirchlich im Sinne der bestehenden Kirche. Sie steht zu den
Kirchen wie etwa Nietzsche, wie noch besser Fechner und
andere als Philosophen zu Schopenhauer und Kant und
Leibuiz: sie ist ihre Fortsetzung im Sinne einer Intensivierung
und Steigerung. Was sich dabei aus ihr für die Kirchen er¬
geben wird, wer weiß es? Das aber scheint gewiß: fruchtbar
werden Christentum und neue Frömmigkeit erst dann völlig
werden zum Heile der Völker, wenn sie sich finden und innig
vermählen zu einer höheren Form religiösen Daseins.
Einstweilen aber haben wir die disjecta membra: hier
ganz zweifellos eine neue Frömmigkeit, dort Kirche und
Dogma. So namentlich auf protestantischem Boden; es
muß ausgesprochen werden, ohne den frommen Seelen
wehe tun zu wollen, die noch im Schatten der Kirche
Genüge finden. So aber nicht minder auf dem Boden der
atholischen Kirche, soweit hier die mehr ins Aeußere ge¬
wandte Tätigkeit des kirchlichen Organismus den An= und
Ausbau stiller Winkel einer persönlichen Frömmigkeit gestattet.
Das sind die Tatsachen: sie sind schon seit mehr als einem
Menschenalter wirksam, zuerst weniger hervortretend, schließlich
augenscheinlich bis zum Grellen: mit ihnen muß, ob sie will)
oder nicht, die Gegenwart rechnen“