II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 155

11. Reigen
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Sehr geehrter Herr Staatsanwalt!
Wenige Tage, nachdem ich August Weissl's „Gräfin Julie, ein
Kapitel Liebeswahnsinn·F) gelesen hatte. belehrten mich die Zeilungen,
dass auch-Sie das Buch inzwischen lasen und sich bemnüssigt fühlten, es als
öffentliches Aergernis erregend und das Schamgefühl gröblich verletzend zu
verbieten. Gestatten Sie mir. anlässlich dieses Zensurerlasses mit Ihnen
in Korrespondenz zu treten! Erst einmal eine Frage: Haben Sie den „Reigen“
eines sicheren Herrn Schmitzler auch gelesen? Es ist dies ein Buch, das der
männlichen und weiblichen Lebewelt mit sehr mittelmässiger Geistes- und noch
mittelmässigerer Herzensbildung“ „famos“ erscheinl, von allen aber, die Anslands¬
gefühl besitzen und von einem Buch einen gewissen Kunslwert verlangen und
voraussetzen, einstimmig verurteilt wird. Solllen Sie dies elende Machwerk
noch nicht gelesen haben, so bin ich bercit, ihnen mein Exemplar — es ist
noch nicht konfisziert — zu leihen. Lesen Sie es und vergleichen Sie die beiden
Bücher und dann ziehen Sie folgende Lehren und Schlüsse daraus: Was erstens
den Inhalt betrifft, so handelt es sich in „Gräfin Julie“ um ein Thema, das
allerdings durch und durch crotisch ist. dessen psycho- und pathologische
Seite aber auch vom Standpunkte des künstlers aus ein eminentes Interesse
zu erwecken vermag, kurz, es ist ein Stoff, den zu behandeln, zu beleuchten
und zu ergründen kein Künsller sich zu schämen braucht. Solllen Sie das
Thema etwa verkannt unt blosse Pikanterie gesucht und entdeckt haben, So
erlaube ich mir. Sie darauf aulmerksam zu machen, dass August Weissl in
seinem Buche zeigt, wie Liebe, die nichts ist als tierisch sinnliche, seclenfremde
Leidenschaft, einen Menschen geistig, seelisch und körperlich an den Rand des
Verderbens führt, ja zerbrichl und schliesslich sogar zum Morde oder Wahnsinn
treiben kann. Dass der Aufor mit solch einer Schilderung für diese Art von
Liebe, für die Antimoral plailiert, wird kein vernünftiger Mensch behaupten
können — die Anwesenden inmner ausgenommen. ingegen ist Schnitzlers
Thema, von welcher Seite man es auch betrachten mag. weder phiysio- Hoch¬
psychologisch von künsllerischem Interesse, ist vielmehr eine ganz plalte
Schilderung eines alltäglichen Vorganges, der wedler mit der Liebe in edlem
Sinne noch mit der Leidenschaff in machtvoller Bedentung etwas gemein hat,
sondern lediglich das seelentreinde. rein lierische Paarungsverlangen und Genuss¬
element unschön behandelt. Eine eines Künstiers gänzlich unwürdige, ekelhaft
gemeine Stoffwahl, die nichts Neues, nichts in die Tiefe Dringendes und nichts
in die Höhe Führendes bietet.
Belrachten wir zweitens die Formfrage, lieber Hlerr Staatsanwalt! (Ich
werde beim Schreiben langsam wärmer: desshalb verübeln Sie mir dies intimere
*) (Hermann Seemanns Nachfolger, Leipzig).
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