II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 160

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Neapel, aber auch gerade wie dieses nur eine Abteilung der Kunst, die
sich nicht jedermann, nicht jeder Frau öffnet. Man schätzt jeden Zweig
der Kunst, auch den niedrigsten, der schon an den Boden streift, man
achtet jede Kunstäußerung, aber man verachtet jene Burschen,
die in den Straßen Neapels die Abbilder jener Kunst des geheimen
Kabinetts mit Augenzwinkern und Blinzeln feilbieten. Der „Reigen“,
von Schnitzler, erst mit Bedacht nur in einigen numerierten Manuskript¬
Exemplaren als unverkäuflich und unverleihbar seinen intimen Freunden
gewidmet, ist später doch fruktifiziert und Verlagsartikel geworden; er
wird versiegelt ins Haus geschickt wie die Literatur des geheimen
Männerschubfaches. Der Reigen“ hat seine Schuldigkeit in mehr als
zehntausend verkauften Stücken getan. Will Bahr einen jungen Autor
fördern? Schnitzler hat es nicht mehr nötig, sein Name ist anerkannt
und verbreitet. Will Bahr ein verkanntes Werk propagieren? Die zehn¬
tausend Exemplare spotten seiner Hilfe. Es drängt ihn also, vor Frauen
und Halbjungfrauen die Gedankenstriche des „Reigen“ mimisch dar¬
zustellen, die Bett- und Kabinettgespräche vor dem unausbleiblichen
Gedankenstrich und nach dem Gedankenstrich zu lesen; er will bei
dem „Ach!“ und „ Oh!“ der verfänglichsten physiologischen und physischen
Deutlichkeit zwinkern, blinzeln, seufzen ... Die Polizei verbietet dieses
Vorlesegeschäft. Jetzt ist’s erreicht: Hermann Bahr ist Märtyrer der
Polizei geworden. Der „Reigen“ ist nicht verboten, aber Hermann Bahr
ist verboten. Mehr kann er nicht wünschen. Er läuft zum Minister¬
präsidenten, „frozzelt“ ihn gleich nach der Audienz in rasch arrangierten
Interviews, die Reklamesucht treibt ihn bis zum höchsten Gerichtshof,
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um den Reigen — Autor, Verleger, Vorleser, Verleger, Autor
verteidigen. Keine einzige Stimme findet sich in Wien, die darauf eir
Sprüchlein wüßte .... Auch sonst sagt Hirschfeld manches Richtige.
Zum Beispiel über die -Weißen Matineen- des Theaters an der Wien:

Man hat die widerlichen Reklamen dieses Unternehmens gelesen
kein Sturm der Entrüstung fegte sie hinweg. Lichtwarck wurde zitiert,
gepriesen, die Wanderausstellung der Kunst für die Jugend wurde auch
in Wien feierlich eröffnet, festlich besprochen. Das Ergebnis sind
-Die Wiener Literaturcafés
* * *
Operetten-Matineen für die Jugend.=
sind zur Operettenbörse geworden. Die Operette der Mittelmäßigkeit
ist der einzige künstlerische Exportartikel Wiens. Oder verlangt man
noch im Auslande ein Streichquartett, eine Ouverture, eine Sinfonie,
Flattern auch nur
„**
ein Chorwerk, die Oper eines Jung-Wieners?
erträgliche Gedichte eines Neu-Wieners über die Grenze? Die Wiener
Literatur ist über Arthur Schnitzler und Altenberg, den feinsten Ana¬
lytiker der Wiener Seelen, nicht hinausgekommen. (Altenberg gegen das
Banausentum zu halten, dazu gehört Mut; aber unter den Typen, über die
das literarische Neu-Wien nicht hinausgekommer ist, wäre doch wohl
auch Hofmannsthal zu nennen gewesen, dessen Sprachkultur selbst jene
rühmen müssen, die da glauben, daß sie sich an der -Elektras ver¬
blutet habe.)Die altberühmte Hofkapelle, welche einst einen Welt¬
ruf hatte, der Stolz vieler Herrschergeschlechter war, geht ihrer Auf¬