11. Reigen
box 17/3
Gent, Kopentagen, London, Madli
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus Neues Pester
Journal
16 10. 1912
vom:
rgenonemen.
Ein verbotenes „Theaterstück“. Bei der
Censurfreiheit, die das Theater in Budapest genießt,
gehört die polizeiliche Inhibirung eines Stückes zu
den größten Seltenheiten. Die in den Theatern auf¬
geführten Werke haben keine wie immer geartete
politische oder sittliche Zollschranke zu passiren, wenn
sie in die Oeffentlichkeit treten, und wenn schon in
der Vergangenheit ab und zu eine behördliche Inter¬
vention erfolgte, geschah dies immer nachträglich,
wenn bereits an der Hand verflossener Aufführungen
die Nothwendigkeit behördlicher Verfügungen sich
zeigte. Unsere Behörde ist sowohl im Hinblick auf
die politische Tendenz der aufgeführten Stücke als
auf deren sittlichen oder besser gesagt, unsittlichen
Gehalt von weitestgehendem Liberalismus. Unseres
Erinnerns sind Theaterstücke wegen ihrer politischen
Tendenz in den allerseltensten Fällen beanstandet wor¬
den, und auch in sittlicher Beziehung mußten schwer¬
wiegende Bedenken aufgetaucht sein, wenn schon die
Behörde zu einem Einschreiten sich veranlaßt sah. Dieser
Fall lag nun vor, als die Polizei heute die Auf¬
führung eines Stückes in einem sich literarisch nen¬
nenden, in Wahrheit jeooch ziemlich obskuren Theater
der Vorstadt verbot. In der Dembiußkygasse existirk
seit dem vorigen Jahre eine kleine Bühne, die sich den
Namen „Uj Szinpad“ beigelegt hatte. Sie war früher
die Hausbühne der Arbeiterschaft und befindet sich in
dem sogenannten „Sozialistenhaus“ an der Ecke der
Dembiußkygasse und der Arenastraße. Die erste Direk¬
tion ging schon kurz nach der Eröffnung mangels an
Zuspruch zugrunde und in dieser Saison wurde das
Theater von dem ehemaligen Provinzdirektor Albert
Kövessy übernommen, unter dem früheren Titel, der
schon nach einigen Tagen in „Kövessy-Szinhäz
umgeändert wurde. Ende der vorigen Woche gelangte
dort Arthur Schnitzlora „Reigen“ zur Auffüh¬
rung, und Jeder, der diese Novellenflucht des her¬
vorragenden. Dichters kannte, war befremdet über die
Unverfrorenheit, mit der man sich an die Aufführung
dieses Werkes machte, das das sexuelle Grundmotiv durch
eine Kette von Vertretern verschiedener Gesellschafts¬
klassen führt und zu einer Kreislinie schließt. Schnitz¬
ler's „Reigen“ ist ein Buch, das dem literarischen
Gourmet manche Feinheit des Sinnenlebens ver¬
schiedener Gesellschaftstypen vermittelt, aber für die
Neugierigen und Sensationslüsternen doch nur eine
Schrift, von der man sich die angenehmen Schauer
verspricht, die die feinere Pornographie zu erzeugen
als ihren Zweck bekennt. Nur durch den eleganten
und vornehmen Vortrag Schnitzler's konnte dieses
Werk ein literarisches Air bewahren, und die Diskre¬
ion des Dichters ging so weit, als das bei dem.ver¬
änglichen Thema blos möglich war. An eine Ver¬
innlichung dieser feinen Erotik auf dem Theater konnte
er Dichter gar nicht denken und dürfte sich auch über die
Maßen wundern, wenn er erfährt, daß seine Geschichten,
die er in das Dunkel der Nacht, in das diskrete Licht
der Alkoven, der Schlafzimmer und der chambres
particulières hinein gedichtet, nun durch ein, Lite¬
ratur heuchelndes, in Wahrheit aber von geschäftlichen
Absichten geleitetes Unternehmen in das rücksichts¬
lose Licht der Theaterrampe gezerrt wurde. Die
Bühne, die zur rohen That schreiten mußte, wo der
Dichter in seinem Buche es blos bei leisen Andeu¬
tungen bewenden ließ, entkleidete denn auch das
Werk seines literarischen Charakters und machte aus
dem „Reigen“ eine Flucht von gemeinen Tableaux
die das Unstatthafte bis an die äußerste Grenze
übertrieb. Das Stück wurde unter dem Titel „Körbe¬
Körbe“ seit ungefähr einer Woche als die einzige
Piece im Ensuite=Repertoires des Kövessy=Theater
gespielt, mußte jedoch heute in Folge Einschreitens
der Polizei abgesetzt werden. Es ist nicht nach un¬
serem Sinne, wenn die Polizei sich allzu intensiv
box 17/3
Gent, Kopentagen, London, Madli
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus Neues Pester
Journal
16 10. 1912
vom:
rgenonemen.
Ein verbotenes „Theaterstück“. Bei der
Censurfreiheit, die das Theater in Budapest genießt,
gehört die polizeiliche Inhibirung eines Stückes zu
den größten Seltenheiten. Die in den Theatern auf¬
geführten Werke haben keine wie immer geartete
politische oder sittliche Zollschranke zu passiren, wenn
sie in die Oeffentlichkeit treten, und wenn schon in
der Vergangenheit ab und zu eine behördliche Inter¬
vention erfolgte, geschah dies immer nachträglich,
wenn bereits an der Hand verflossener Aufführungen
die Nothwendigkeit behördlicher Verfügungen sich
zeigte. Unsere Behörde ist sowohl im Hinblick auf
die politische Tendenz der aufgeführten Stücke als
auf deren sittlichen oder besser gesagt, unsittlichen
Gehalt von weitestgehendem Liberalismus. Unseres
Erinnerns sind Theaterstücke wegen ihrer politischen
Tendenz in den allerseltensten Fällen beanstandet wor¬
den, und auch in sittlicher Beziehung mußten schwer¬
wiegende Bedenken aufgetaucht sein, wenn schon die
Behörde zu einem Einschreiten sich veranlaßt sah. Dieser
Fall lag nun vor, als die Polizei heute die Auf¬
führung eines Stückes in einem sich literarisch nen¬
nenden, in Wahrheit jeooch ziemlich obskuren Theater
der Vorstadt verbot. In der Dembiußkygasse existirk
seit dem vorigen Jahre eine kleine Bühne, die sich den
Namen „Uj Szinpad“ beigelegt hatte. Sie war früher
die Hausbühne der Arbeiterschaft und befindet sich in
dem sogenannten „Sozialistenhaus“ an der Ecke der
Dembiußkygasse und der Arenastraße. Die erste Direk¬
tion ging schon kurz nach der Eröffnung mangels an
Zuspruch zugrunde und in dieser Saison wurde das
Theater von dem ehemaligen Provinzdirektor Albert
Kövessy übernommen, unter dem früheren Titel, der
schon nach einigen Tagen in „Kövessy-Szinhäz
umgeändert wurde. Ende der vorigen Woche gelangte
dort Arthur Schnitzlora „Reigen“ zur Auffüh¬
rung, und Jeder, der diese Novellenflucht des her¬
vorragenden. Dichters kannte, war befremdet über die
Unverfrorenheit, mit der man sich an die Aufführung
dieses Werkes machte, das das sexuelle Grundmotiv durch
eine Kette von Vertretern verschiedener Gesellschafts¬
klassen führt und zu einer Kreislinie schließt. Schnitz¬
ler's „Reigen“ ist ein Buch, das dem literarischen
Gourmet manche Feinheit des Sinnenlebens ver¬
schiedener Gesellschaftstypen vermittelt, aber für die
Neugierigen und Sensationslüsternen doch nur eine
Schrift, von der man sich die angenehmen Schauer
verspricht, die die feinere Pornographie zu erzeugen
als ihren Zweck bekennt. Nur durch den eleganten
und vornehmen Vortrag Schnitzler's konnte dieses
Werk ein literarisches Air bewahren, und die Diskre¬
ion des Dichters ging so weit, als das bei dem.ver¬
änglichen Thema blos möglich war. An eine Ver¬
innlichung dieser feinen Erotik auf dem Theater konnte
er Dichter gar nicht denken und dürfte sich auch über die
Maßen wundern, wenn er erfährt, daß seine Geschichten,
die er in das Dunkel der Nacht, in das diskrete Licht
der Alkoven, der Schlafzimmer und der chambres
particulières hinein gedichtet, nun durch ein, Lite¬
ratur heuchelndes, in Wahrheit aber von geschäftlichen
Absichten geleitetes Unternehmen in das rücksichts¬
lose Licht der Theaterrampe gezerrt wurde. Die
Bühne, die zur rohen That schreiten mußte, wo der
Dichter in seinem Buche es blos bei leisen Andeu¬
tungen bewenden ließ, entkleidete denn auch das
Werk seines literarischen Charakters und machte aus
dem „Reigen“ eine Flucht von gemeinen Tableaux
die das Unstatthafte bis an die äußerste Grenze
übertrieb. Das Stück wurde unter dem Titel „Körbe¬
Körbe“ seit ungefähr einer Woche als die einzige
Piece im Ensuite=Repertoires des Kövessy=Theater
gespielt, mußte jedoch heute in Folge Einschreitens
der Polizei abgesetzt werden. Es ist nicht nach un¬
serem Sinne, wenn die Polizei sich allzu intensiv