II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 238

11. Reigen
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12. November 1920
Zeiten klagenden Librettisten, die ihr Hungertuch beim Prix und
und ihren Bettelstab beim Hieß kaufen, gar nicht zu reden. Das
verkannte Genie existiert einfach nicht mehr. Mozart und Schubert
würden, lebten sie heute, wahrscheinlich ungezählte Dollar ver¬
dienen. Die Zeit versteht vielleicht ihre Künstler nicht, aber sie
bezahlt sie ganz anständig. Und merkwürdig, alte, oft gespielte
Stücke machen jetzt wieder Geschäft. Das neue Pudlikum, das
noch nicht lange Zeit in der Lage ist, teure Perkettplätze
zu bezahlen, holt seinen Bildungsmangel heftig nach. Theater¬
direktoren, wie Verleger sind eifrig dabei, aus alten Werken
herauszuholen, was immer nur geht. Demnächst wird es sogar
die Premiere eines neuen alten Stückes geben, von dem die
Theaterdirektoren seit mehr als einem Jahrzehnt schwärmen „Ja,
wenn man den „Reigen“ von Schnitzler spielen köum'! Das
wär' was!“ Und jetzt kann man den „Reigen“ von Schnitzler
spielen. Der Dichter so vieler feiner psychologischer Komödien,
hat sich vor dem Theaterpublikum durch Jahre geuiert, in seiner
Jugend ein Werk wie den „Reigen“ verfaßt zu haben. Jeder
andere, hieße er nicht Artur Schnitzler, hätte ein Stück mit
solchen Erfolgchancen ohne weiteres auf den Markt ge¬
worsen. Doch Schnitzler zögerte. Er traute sich nicht
recht, denn er fürchtete, das Publikum könnte hinter
den losen Szenen, die den „Reigen“ knüpsen, bloß
Pikanterie wittern. Und in ihnen ist doch eine eminente Meister¬
schaft des psycho=physiologischen Details. Schnitzler, schrieb den
„Reigen“ vor der „Liebelei“ und jahrelang kannten nur seine in¬
timen Freunde das Buch, bis ihn eines Tages ein Verleger
dazu brachte, es dem Buchhandel zu übergeben. „Reigen
machte damals sehr großes Aufsehen. Von einer Bühnenaufführung
aber wollte Schnitzler nichts wissen. Vor einem Jahr nun redete
ihm Max Reinhardt sehr zu, „Reigen“ in Berlin spielen zu
lassen. Und der Dichter entschloß sich, nachdem ihm Reinhardt
alle Bedenken ausgeredet hatte, die Aufführungsbewilligung zu
geben. Jetzt hat Reinhardt mit seinen Thestern aur mehr eine
loseie Regisseurbeziehung; Felix Holländer leitet sie und als
Holländer unlängst in Wien war, führte ihn der erste
Weg ins Cottage zu Schnitzler. Er wollte den „Reigen“
nicht früher wegzufahren bis
haben und gelobte,
Schnitzler seine Einwilligung geben werde. Und nach
langem Zögern und nachdem Holländer alle Besetzungsfragen er¬
ledigte, wie sie Schnitzler wünschte, konnte Holländer mit dem
„Reigen“ in der Reiserasche nach Berlin zurückfahren; dort soll
noch vor Weihnachten die Premiere sein. Mit einigen Wiener
Schauspielern in den Hauptrollen. Edthofer, Ettlinger, der junge
Thimig sollen unter anderen mitwirken. Für Wien hält sich
Schnitzler noch Bedenkzeit. Die Direktoren bestürmen ihn wegen
des Stückes, aber er hat sich bisher für keine Bühne entschieden.
Schnitzler hat förmlich Angst vor dem großen „Reigen"=Erfolg.
Er schätzt den „Reigen“ als eine liebe Jugendspielerei, aber es ver¬
drießt des Dichters Herz, daß der „Einsame Weg“ fünf- sechs¬
mal in einer Saison und der „Reigen“ vielleicht zweihundertmak
gespielt werden soll.
Und was wird die Zenfur zum „Reigen“ sagen? Es gibt
nämlich noch immer oder schon wieder eine Zenfur, obgleich es
immer hieß, so etwas brauche man in einer freien Republik nicht.
Trozvem ist die Zenfar in manchen Dingen für die Gessentlicheen
von nicht zu unterschätzendem Wert. Denn unsere Zenfur hat sich
den Zeitverhältnissen angepaßt. Sie ist nicht mehr so unnachsicht¬
lich strenge wie vor Jahren, als sie in Wedekinds „Kammer¬
sänger“ noch das k. k. vor dem Kammersänger strich, weil dieser
Tenor doch Dinge tat und sprach, die ein k. k. Mensch nicht tun
und sprechen darf. Als man in der Josefstadt unlängst wieder das
Zensurexemplar des „Kammersängers“ hervorholte, mußte man
über die kindliche Aengstlichkeit des Zensors von damals lächeln.
Heute ist das anders. So kam es, daß neulich, als in einem
Wiener Theater ein Stück gespielt wurde, dessen letzter Akt in
einem öffentlichen Haus vor sich geht, nicht der Zensor rot wurde,
sondern der Direktor.
Die Zensur von heute wird also gegen Schnitzlers „Reigen“
sicherlich nichts einzuwenden haben, weil sie ja weiß, daß es sich
bei Schnitzler um ein künstlerisches Werk und nicht um speku¬
lative Absichten handelt. Es ist die Frage, die eine taktvolle
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