II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 248

11. Reigen
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enWen Dihter und Gasse
aus dem Reich der bildenden Künste waren
zur vormittägigen Probeauführung gekommen
Sie sahen und hörten und — zeigten sich nicht
emport. Nicht einmal von den vielen Damen
die in den Reihen sich drängten, hörte man ein
Zeichen der Entrüstung. Hoffentlich vollzog sich
in ihnen die Revolution wenigstens still:
durch Erröten. Man konnte derlei allerdings
im Saale nicht wahrnehmen, denn —
sei Dank — man hatte die Beleuchtung auf ein
Mindestmaß zurückgeführt.
Die Szenen des „Reigen“ dem Publikum
lnhaltlich darzustellen, ist nicht gut möglich. Es
genüge sie anzudeuten. Man erlebt die Zu¬
sammenkunft der Dirne und des Soldaten, die
zu nächtlicher Stunde im Freien sich treffen;
man beobachtet die Annäherung des jungen
Herrn aus guter Familie zum Bebenkätzchen
bann eines Elegants zur „anständigen“
Frau, weiter eines gesetzteren Herrn und eines
Wiener Vorstadtmädels, dann wieder eines
Dichters und später eines gräflähen Offiziers
und einer berühmten Schauspieleren. All diese
Zusammenkünfte spielen sich meist nächtlich ab
Entweder in einem Donaugebüsch des Praters,
oder im Junggesellenheim, in einem Chambre
ssparée oder im Boudoir einer Diva.
Der Höhepunkt der Szene ist immer der¬
selbe. Er kundigt sich dadurch an, daß die Bühne
vollkommen verdunkelt wird und eine Zeitlang
wie ein schwarzer Riesenfleck dem Publikum
entgegenstarrt. Und man fühlt es immer als eine
Erleichterung, daß der Beleuchtungsinspekton
dem Dichter in die Arme fällt... Namentlich
die ersten im nächtlichen Prater sich ab¬
spielenden Szenen flößen arges Unbehagen
ein. Später, wenn der „Reigen“ in die Sphare
gebildeter Menschen gerät, spielen sich die
Dinge nicht mehr so brutal ab. Auch lenkt der
Dialog, aus dem der Geist eines dichterischen
Menschen= und Weltenbeschauers zu sprechen
beginnt, die Aufmerksamkeit von Scheußlichem
ab. Wenn es auch — im Boudoir geradeso wie
auf der Praterwiese — auf der Bühne kohl¬
rabenschwarz werden muß.
Man hat
Schnitzlers „Reigen“ vielfach als ein seiner
unwürdiges, schamloses Machwerk verschrien.
In der gezähmten Gestaltung der Bühne
treten die Brutalitäten mehr zurück. Die
Menschen selbst treten vor und werden mit
einer Erbarmungslosigkeit durchleuchtet, die
nur ein großer Kenner trifft. Nur diese Kunst,
die genial=schmissige Zeichnung der Figuren
jeder Mann und jede Frau ein vollendeter
Typus eines ganzen Geschlechtes — kann den
„Reigen“, vor dem Verdammungsurteil
schützen, ein pornographisches Werk zu sein.
Womit aber nicht gesagt werden soll,
daß es ein Bühnenwerk ist. Im Gegenteil! Es
fehlt ihm jede dramatische Seele. Es ist eine
Szenenreihe gegen die Bühne, was schon
daraus sich ergibt, daß die Höhepunkte regel¬
mäßig nur völlig wort= und lichtlos möglich
sind. Jawohl, der „Reigen“ hätte im Buch
bleiben sollen. Aber er wird trotzdem viele
Aufführungen erleben, denn die Leute werden
ihm „wegen der Pikanterie“ zuströmen, so wie
sie es getan haben, als Wiens kleinste Bühne
Henry Lavedans ebenso theaterwidrige und
ebenso gewagte Szenenreihe „Das Bett“
brachte.
Das Publikum der Generalprobe zeigte
sich durch die Aufführung auf das lebhafteste
angeregt und unterhalten. Dies um so mehr,
als die von Dr. Schulbaur geleitete
Inszenierung die steis sich wiederholenden
Kraßheiten zu mildern suchte und die Dar¬
tellung einige glänzende schauspielerische
Leistungen bot. Ihre Würdigung sei dem
Berichte über die Erstaufführung vorbehalten,
die Dienstag stattfindet.
Anzengruber sagte einmal: Jedes Kunst¬
werk sei sittlich, nur die Zuschauer seienes
gewöhnlich nicht. Es ist aber die Frage: Hätte
Unzengruber den „Reigen“ als Kunstwerk
gelten lassen?