11.
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Reigen
65
sä134
Thenter
Der „Reigen“=S'ardal in den Kammer¬
spielen.
Montag abends wurde versucht, die Auf¬
führung von Schnitzlers „Reigen“ in den
Kammerspielen zurstoren. Die Logen, in die die
15 bis 20 jungen Leute während des vorletzten
Bildes eindrangen, waren besetzt und als die
Demonstranten ihr „Pfui!“ in den Saal riefen,
wurden sie ihrerseits vom Publikum, das sich
über die Störung entrüstete, mit Pfuirufen
empfangen. Die Eindringlinge wurden schließlich
aus dem Zuschauerraum gedrängt und die Vor¬
stellung nahm ihren Fortgang. Sechs Personen
wurden arretiert und zum Stadtkommissariat
gebracht.
Die sechs Verhafteten gehören durchwegs der
deutschen Volkspartei (Orel=Partei) an. Es sind
dies: der Privatbeamte Rudolf Stachel¬
berger, der Privatbeamte Alfred Stachel¬
berger, der Postoffiziant Bundi, der Optiker
Franz Hermann, der Schlossergehilfe Anton
Kramer und ein Privatbeamter.
Der Optiker Franz Hermann äußerte
sich zu einem Berichterstatter folgendermaßen
„Ich kenne das Stück nicht, ich habe keine Aufs
führung gesehen und habe auch das Buch nicht
gelesen. Nur eine Kritik habe ich gelesen. Auch die
anderen fünf Herren, die mit mir verhaftet
worden sind und die gleich mir der Orel=Partei
angehören, kennen das Stück nicht. Aber ein
Kollege, der nicht mit verhaftet worden ist, hat
unserzählt, was drinnen vorgeht. In unserer
Zeit, wo die Moral und alles ganz herunter ist,
wollen wir, daß das Theater eine Bildungsstätte
ist. Weil wir eine idealistische Auffassung vom
Und deshalb lassen wir den
Theater haben.
„Reigen“ nicht spielen. Die vorgestrige Demon¬
stration kam folgendermaßen zustande: Wir haben
„Urania =Abend gehabt und haben beschlossen:
jetzt gehen wir hin und demonstrieren gegen den
„Reigen“. Und so haben wir's auch getan. Die
gestrige Kundgebung war noch lange nicht die
letzte. Wir werden weiter demonstrieren, auch
andere Gruppen werden die Auf¬
führung des Stückes stören. Soviel ich
weiß, wird auch die „Reichspost“ etwas ver¬
anstalten — wir haben mit der „Reichspost'
nichts zu tun, wir haben selbständig ge¬
arbeitet — und ich hab' auch gehört, daß eine
Massenversammlung und eine Mas¬
senkundgebung gegen den „Reigen“ geplant
ist. Was sie in München durchgesetzt haben,
werden wir in Wien auch treffen.
Es ist möglich, daß die Polizei, wenn sich die
Ruhestörungen wiederholen sollten, die weiteren
Aufführungen des „Reigen“ aus Sicher=
heitsgründen verbieten dürfte.
5- FEERUAR 192
Krenen Zeitung, W
Rün hat uns nach den schönen Weihnachtsspielen das
Münchener Schauspielhaus der Frau Hermine Körner
Prompt nach dem Berliner Muster der Frau Gertrud
Eysoldt den
SchnitzlerschenReigen“
vorgetanzt.
(Goethe: „Willst du wiffen, was sich ziemt, so frage nur
bei edlen Frauen an!") Und fast zu gleicher Zeit hat eine
Swahrhaft edle und gründlich gelehrte Frau, die Doktorin
M. v. Kemnitz, im größten Hörsaal unserer Universität
einen machtvollen Vortrag über erotische Wiedergeburt ge¬
halten und die sexuellen Entartungserscheinungen als
die
2 Krankheit der Zeit gekennzeichnet und gegeißelt. Sie hat
4
mit wissenschaftlicher Ueberzeugungskraft und prophetischem
Feuer den Finger in die Wunde gelegt und festgestellt, daß
eine mißverstandene Staatsordnung, mißverstandene Kunst
wie mißverstandene Wissenschaft gerade den höher ent¬
wickelten Menschen unter allerlei Einflüssen und üblen
sozial=moralischen Zuständen in eine Art chronischet Ueber¬
reizung versetzen. Ist da mit kleinen Einzelbesserungen
gegen das ungeheure Uebel aufzukommen? Ist nicht schon
mit der Jugenderziehung im Hause zu beginnen und eine
vollkommene Umstellung der geschlechtlichen Moral vorzu¬
nehmen, bevor wir von einer vollkommenen Wiedergeburt
auf erotischem Gebiete in hohen Tönen reden wollen?
96
Wer die Bewahrung und Auslegung unserer vor¬
nehmsten nationalen Bildungsschätze als Aufgabe auch
unserer modernsten Bühnen erkennt, wird kaum mehr die
modischen Mischmasch=Theater ernst zu nehmen vermögen.
Vorführungen wie Wedekinds „Pandora“
und
Schnitzlers „Reigen, die das Animalische im Liebes¬
trieb seinem Dunkel entreißen und mit pornographischem
Behagen die sexuelle Not scheinwerferhaft bestrahlen, statt
der Dichtung Schleier darüber zu werfen, helfen jeder
Ehrfurchtlosigkeit, jeder Schamlosigkeit den Weg bereiten.
Vieles, was beim Lesen dieser pornographischen Dialoge
durch witzige stilistische Feinheiten noch erträglich wirkt, ist
bei der Aufführung kaum auszuhalten. Wer heute im
Theater klatscht, schämt sich morgen darüber, wenn nicht
schon jeder gute Funke in ihm erloschen. Es liegt in der
Hand des Publikums, bei voller behördlicher Zensurfreiheit,
hier Ordnung zu schaffen.
Freilich, wo Aas ist, das man für Trüffeln hält, da
sammeln sich die bekannten Rüsseltiere. Das Erstaufführungs¬
publikum im Münchener Schauspielhause nahm die ersten
fünf Dialoge mit ruhiger Aufmerksamkeit. kein Laut fiel, keine
Hand rührte sich. Die zweiten fünf Dialoge änderten die
Stimmung zugunsten der Spielerinnen Nicoletti, Holm und
Borkmann (das süße Mädel, die Schauspielerin, die Dirne),
die mit angenehmer Sicherheit das Spöttische und Burleske
der Situationen ironisch unterstrichen. Die Spielleitung hatte,
ür Striche und Dämzsungen gesorgt. Es kom m Hause zu
keinerlei Skandal, man verließ das Spiel gelangweilt, mit
einer Art Tapferkeit in der Ueberminhng das Wanf¬
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Reigen
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Thenter
Der „Reigen“=S'ardal in den Kammer¬
spielen.
Montag abends wurde versucht, die Auf¬
führung von Schnitzlers „Reigen“ in den
Kammerspielen zurstoren. Die Logen, in die die
15 bis 20 jungen Leute während des vorletzten
Bildes eindrangen, waren besetzt und als die
Demonstranten ihr „Pfui!“ in den Saal riefen,
wurden sie ihrerseits vom Publikum, das sich
über die Störung entrüstete, mit Pfuirufen
empfangen. Die Eindringlinge wurden schließlich
aus dem Zuschauerraum gedrängt und die Vor¬
stellung nahm ihren Fortgang. Sechs Personen
wurden arretiert und zum Stadtkommissariat
gebracht.
Die sechs Verhafteten gehören durchwegs der
deutschen Volkspartei (Orel=Partei) an. Es sind
dies: der Privatbeamte Rudolf Stachel¬
berger, der Privatbeamte Alfred Stachel¬
berger, der Postoffiziant Bundi, der Optiker
Franz Hermann, der Schlossergehilfe Anton
Kramer und ein Privatbeamter.
Der Optiker Franz Hermann äußerte
sich zu einem Berichterstatter folgendermaßen
„Ich kenne das Stück nicht, ich habe keine Aufs
führung gesehen und habe auch das Buch nicht
gelesen. Nur eine Kritik habe ich gelesen. Auch die
anderen fünf Herren, die mit mir verhaftet
worden sind und die gleich mir der Orel=Partei
angehören, kennen das Stück nicht. Aber ein
Kollege, der nicht mit verhaftet worden ist, hat
unserzählt, was drinnen vorgeht. In unserer
Zeit, wo die Moral und alles ganz herunter ist,
wollen wir, daß das Theater eine Bildungsstätte
ist. Weil wir eine idealistische Auffassung vom
Und deshalb lassen wir den
Theater haben.
„Reigen“ nicht spielen. Die vorgestrige Demon¬
stration kam folgendermaßen zustande: Wir haben
„Urania =Abend gehabt und haben beschlossen:
jetzt gehen wir hin und demonstrieren gegen den
„Reigen“. Und so haben wir's auch getan. Die
gestrige Kundgebung war noch lange nicht die
letzte. Wir werden weiter demonstrieren, auch
andere Gruppen werden die Auf¬
führung des Stückes stören. Soviel ich
weiß, wird auch die „Reichspost“ etwas ver¬
anstalten — wir haben mit der „Reichspost'
nichts zu tun, wir haben selbständig ge¬
arbeitet — und ich hab' auch gehört, daß eine
Massenversammlung und eine Mas¬
senkundgebung gegen den „Reigen“ geplant
ist. Was sie in München durchgesetzt haben,
werden wir in Wien auch treffen.
Es ist möglich, daß die Polizei, wenn sich die
Ruhestörungen wiederholen sollten, die weiteren
Aufführungen des „Reigen“ aus Sicher=
heitsgründen verbieten dürfte.
5- FEERUAR 192
Krenen Zeitung, W
Rün hat uns nach den schönen Weihnachtsspielen das
Münchener Schauspielhaus der Frau Hermine Körner
Prompt nach dem Berliner Muster der Frau Gertrud
Eysoldt den
SchnitzlerschenReigen“
vorgetanzt.
(Goethe: „Willst du wiffen, was sich ziemt, so frage nur
bei edlen Frauen an!") Und fast zu gleicher Zeit hat eine
Swahrhaft edle und gründlich gelehrte Frau, die Doktorin
M. v. Kemnitz, im größten Hörsaal unserer Universität
einen machtvollen Vortrag über erotische Wiedergeburt ge¬
halten und die sexuellen Entartungserscheinungen als
die
2 Krankheit der Zeit gekennzeichnet und gegeißelt. Sie hat
4
mit wissenschaftlicher Ueberzeugungskraft und prophetischem
Feuer den Finger in die Wunde gelegt und festgestellt, daß
eine mißverstandene Staatsordnung, mißverstandene Kunst
wie mißverstandene Wissenschaft gerade den höher ent¬
wickelten Menschen unter allerlei Einflüssen und üblen
sozial=moralischen Zuständen in eine Art chronischet Ueber¬
reizung versetzen. Ist da mit kleinen Einzelbesserungen
gegen das ungeheure Uebel aufzukommen? Ist nicht schon
mit der Jugenderziehung im Hause zu beginnen und eine
vollkommene Umstellung der geschlechtlichen Moral vorzu¬
nehmen, bevor wir von einer vollkommenen Wiedergeburt
auf erotischem Gebiete in hohen Tönen reden wollen?
96
Wer die Bewahrung und Auslegung unserer vor¬
nehmsten nationalen Bildungsschätze als Aufgabe auch
unserer modernsten Bühnen erkennt, wird kaum mehr die
modischen Mischmasch=Theater ernst zu nehmen vermögen.
Vorführungen wie Wedekinds „Pandora“
und
Schnitzlers „Reigen, die das Animalische im Liebes¬
trieb seinem Dunkel entreißen und mit pornographischem
Behagen die sexuelle Not scheinwerferhaft bestrahlen, statt
der Dichtung Schleier darüber zu werfen, helfen jeder
Ehrfurchtlosigkeit, jeder Schamlosigkeit den Weg bereiten.
Vieles, was beim Lesen dieser pornographischen Dialoge
durch witzige stilistische Feinheiten noch erträglich wirkt, ist
bei der Aufführung kaum auszuhalten. Wer heute im
Theater klatscht, schämt sich morgen darüber, wenn nicht
schon jeder gute Funke in ihm erloschen. Es liegt in der
Hand des Publikums, bei voller behördlicher Zensurfreiheit,
hier Ordnung zu schaffen.
Freilich, wo Aas ist, das man für Trüffeln hält, da
sammeln sich die bekannten Rüsseltiere. Das Erstaufführungs¬
publikum im Münchener Schauspielhause nahm die ersten
fünf Dialoge mit ruhiger Aufmerksamkeit. kein Laut fiel, keine
Hand rührte sich. Die zweiten fünf Dialoge änderten die
Stimmung zugunsten der Spielerinnen Nicoletti, Holm und
Borkmann (das süße Mädel, die Schauspielerin, die Dirne),
die mit angenehmer Sicherheit das Spöttische und Burleske
der Situationen ironisch unterstrichen. Die Spielleitung hatte,
ür Striche und Dämzsungen gesorgt. Es kom m Hause zu
keinerlei Skandal, man verließ das Spiel gelangweilt, mit
einer Art Tapferkeit in der Ueberminhng das Wanf¬