II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 339

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11. Reigen
Tagesbericht.
Christlichsoziale Kundgebungen gegen
den „Reigen“
Um die Regierungsblamage zu vertuschen.
Gestern gegen 7 Uhr abends ist es vor den Kammer¬
spielen des Deutschen Volkstheaters zu einer lauten
Demonstration gekommen. Angehörige des Katholischen
Volksbundes, etwa dreihundert an der Zahl,
meist junge Leute, waren von einer Festversammlung, die
nachmittags im Rathause stattgefunden hatte, vor die
Kammerspiele gezogen. Mit den Rufen: „Pfui der
Reigen!", „Pfui Kammerspiele!“ Nieder
mit den Sozialdemokralen!“ „Vorstellung unter¬
brechen!“ versuchte die Menge sich den Eingang in
das Theater zu verschaffen.
Den Demonstranten stellte sich die Vereitschaft der
Sicherheitswache entgegen, die seit einer Woche an
jedem Abend die Eingänge des Theaters bewacht. Die
Besitzer von Eintrittskarten zur Vorstellung, die in das
Theater eintreten wollten, wurden zum Teil von den
Demonstranten daran gehindert. Als die Situation
bedrohlich aussah, kam Sulkurs von der Wachstube in
der Postgasse her.
Nun wurden die Demonstranten gegen den Kai
und gegen den Stephansplatz zu von der Wache abge¬
drängt. Der Sicherheitswache wurde dabei von
den Demonstranten vielfach Widerstand geleistel. Es kam
zu vier Arretierungen. Die Arretierten, ein
Beamter der Gemeinde Wien, ein Postunter¬
beamter, ein Fabriksarbeiter und ein
Schneidergehilse, sämtlich Mitglieder des Katho¬
lischen Volksbundes, wurden auf die Wachstube gebracht,
nach Abgabe ihres National jedoch gleich wieder ent¬
lassen.
Die Demonstcanten hielten sih noch eine Zeitlang
am Franz Josefs=Kai und beim Stephansplatz auf und
zertreuten sich gegen halb 8 Uhr.
Die Vorstellung des „Reigen“ in den Kammerspielen,
der auch der Dichter Artur Schnitzler beiwohnte,
ging ohne Störung und mit starkem, demonstrativem
Beisall vor sich. Sicherheitswache hielt bis zum Schluß
der Vorstellung die Ein= und Ausgänge besetzt. Es kam
zu keinem Zwischenfall mehr.
Der Direktion der Kammerspiele des Deutschen
Volkstheaters wurde, wie wir erfahren, von christlich¬
sozialer Seite durch einen Funktionär der Parteileitung
nahegelegt, die „Reigen“=Aufführungen abzubrechen, da
andernfalls noch weitere große Demonstratio¬
nen gegen die Aufführungen veranstaltet würden, nicht
nur außerhalb des Theaters, sondern auch im Theater
selbst.
Direktor Bernau steht gegenüber dieser Drohung
auf dem Standpunkt, daß die Polizei dafür Sorge
tragen werde, Demonstranten vor dem Theater entsprechend
zu begegnen, während Ruhestörungen einer Gruppe von
Leuten im Thrater selbst Zurechtweisung durch Theater¬
besucher, die die literarische Bedeutung des „Reigen“ zu
würdigen wissen und politischen Kämpfen abhold sind, erfahren
werden. Direktor Bernau verweist darauf, daß in den
Kabaretts und Variétés gegenwärtig die obszönsten Dar¬
bietungen ohne Einspruch der Behörden oder Parteien
stattfinden. Die „Reigen“=Affäre sei übrigens heute
bereits zu einer politischen geworden. Direktor Bernau
hat sich der Regierung gegenüber bereit erklärt, die
ohnedies unter Vermeidung jedweder derben Effekte aus¬
geführte Inszenierung des „Neigen“ dadurch zu mildern,
daß anstatt der Verdunkelung der Szene während der
bekannten Dialogstellen der Vorhang fallen würde. Die
Regierung hat sich zu diesem Vorschlag Direktor Bernaus
bisher nicht geäußert.

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Eine Straßendemonst ation gegen den
„Reigen“
Vor der Sonntagsaufführung.
Gestern abend fand vor der Aufführung von Schnitzlers
„Reigen“ in den Kammerspielen eine Straßendemonstration
christlichsozialer Parteiangehöriger statt. Es wurde bereits das
zweite Bild der Szenenreihe (Der Soldat und das Stuben
mädchen) gespielt, da hörte man vom Lugeck her erregte Rufe
die auch im Theater vernehmbar waren. Ungefähr 300, mei
junge Leute waren nach der Hauptversammlung des Katholische
Volksbundes in der Volkshalle des Rathauses, in der Ab
geordneter Professor Seipel über die „Reigen“=Affäre gesproche
hatte, zu den Kammerspielen gezogen, um dort die Aufführun
der Schnitzlerschen Dialoge zu stören. Durch Zuzug von
sinnungsgenossen verstärkte sich ihre Zahl etwa auf das Doppelt
Als der Anmarsch der Demonstranten bemerkt wurde, sperr
die verstärkte Sicherheitswache die Passage zum Theater un
ließ nur mehr Besitzer von Eintrittskarten durch den Kordon
Die Menge versuchte zunächst, sich den Eingang in das Theat
zu erzwingen, und bedrängte heftig die Sicherheitswache. Al
ihnen diese Absicht nicht gelang, stellten sie sich in der Roter
turmstraße auf und belästigten unter den Rufen „Pfui, Schiebe
gesindel!“ „Pfui, Judenpack!“ „Nieder mit den Sozia
demokraten!“, „Weg mit dem Schweinestück!“ „Schluß di
Vorstellung!“ nicht nur die wenigen, die noch in das Theat
zu gelangen suchten, sondern auch vorübergehende Passante
und vorbeifahrende Automobile und Wagen. Als die Situatir
bedrohlich zu werden schien, kam der Theaterwache eine Ve
stärkung aus der Wachstube in der Postgasse zu Hilfe. Nu¬
mehr wurden die Demonstranten gegen den Kai und de
Stephansplatz abgedrängt, wo sie noch eine kurze Zeit lärmt
und sich dann zerstreuten.
Bei der Räumung der Rotenturmstraße leisteten die Demor
stranten der Wache Widerstand, weshalb Arretierungen vo¬
genommen wurden. Die vier Arretierten waren: Ein Pos
unterbeamter, ein Beamter der Gemeinde Wien, ein Schneide
gehilfe und ein Fabriksarbeiter. Sie wurden in die Wachstubei
der Postgasse gebracht, wo sie sich als Mitglieder des katholische
Volksbundes legitimierten und nach Abgabe ihres National
wieder entlassen wurden.
Sowohl die Abendvorstellung als auch die Nachtvorstellun
des „Reigen“ selbst, die vollständig ausverkauft waren, ginge
ohne Zwischenfall vor sich. Direktor Bernau erklärt, daß ihn
da er bisher kein behördliches Verbot erhalten habe, weder di
Demonstrationen vor dem Theater noch auch Drohungen
de
weiteren Störungen veranlassen würden, die Aufführungen
„Reigen einzustellen. Den Demonstrationen vor dem Theate
werde die Polizei begegnen, für die Abweisung von Störunge
während der Vorstellung werde das Publikum sorgen. Auf sei
Anbot, szenische Aenderungen der Aufführung durchzuführer
habe er bisher vom Bundesministerium noch keine Antwort er
halten. Bürgermeister Reumann habe ihm gegenüber die strikt
Erklärung abgegeben, daß e# seine Entscheidung auf alle Fäll
aufrechterhalte.
Heute vormittag wurde der Vorverkauf für die weiteren
„Reigen“=Aufführungen der Woche eröffnet. Er gestaltete sich
o lebhaft, daß Polizeiorgane den Verkehr in der Passage zun
Theater regeln mußten.
Abgeordneter Professor Dr. Seipel über die
„Reigen“=Affäre.
Wien, 14. Februar.
Im Anschlusse an die 14. Hauptversammlung des Volks¬
bundes der Katholiken Oesterreichs fand gestern nachmittag in der
Volkshalle des neuen Rathauses eine massenhaft besuchte Festver¬
sammlung statt, in der Abgeordneter Professor Dr. Seipel
unter anderem ausführte. „Das sittliche Empfinden unseres boden¬
ständigen christlichen Volkes wird fortgesetzt aufs schwerste ver¬
letzt durch die Aufführung eines Schmutzstückes aus der Feder
eines jüdischen Autors. Vor wenigen Tagen hat dieser Umstand
sogar eine widerliche Sturmszene in unserem obersten Ver¬
tretungskörper, im Nationalrat, ausgelöst. Es ist als Anwalt
dieses Stückes der Präsident Seitz aufgetreten — der Fasching ist
vorüber und die Sozialdemokratie demaskiert sich. Es ist ganz
offen jetzt zutage getreten, was wir früher ohnehin wußten, daß
die Sozialdemokratie auftreten und stürmische Szenen machen
muß, wenn es sich um die Verteidigung irgendeiner jüdischen
Machenschaft handelt. Ich rede hier von dem üblen Judentum,
das als notwendige Gegenwehr immer wieder den Antisemitismus
hervorrufen muß, von denjenigen, die sich anmaßen, an der
Spitze des deutschen Volkes zu stehen und von deutscher Kunst
zu reden, ohne zu wissen, welche hohe Würde der deutschen Kunst
zukommt und daß sie sich offenbaren muß nicht so sehr in der
Technik als in der Wahl der Stoffe für die Kunstwerke. Unsere
Regierung nud insbesondere unser Bundesminister für Inneres
habe sich ganz korrekt verhalten. Er hat das Möglichste getan
die Verfassung zu wahren, aber auch die Autorität zu stützen,
selbst in dem Fall, wenn sie in den Händen eines Reumann
liegt. Er hat lange zugewartet, Vorstellungen erhoben und in
einem höflichen Briefe den Bürgermeister aufgefordert, selber
Ordnung zu machen, um ja nicht dessen Autorität oder Emp¬
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