II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 348

1
box 17/5
Reigen
Die Herren
Bemerkungen zur „Reigen“=Affäre.
Man soll den Streit um die Aufführung
des
Schnitzlerschen „Reigens“ nicht schelten; er hatte, von
dem nicht undeträchtlichen politischen Hintergrund abge¬
sehen, auch darin sein Gutes, daß er wieder einmal den
an sich lächerlichen, aber in seiner Anmaßlichkeit doch
auch störenden Typus der Oberlehrer=Naturen mit ent¬
sprechender Deutlichkeit allen vor Augen geführt hat. Im
alten Staat war die Bevormundung der Bürger durch
den Staat ein Stück jenes großen Systems von Siche¬
rungen, welche zur Erhallung der Macht erfunden und
planmäßig ausgebaut worden waren. Es lag im Wesen
dieses Systems, nicht nur das Tun, sondern auch das
Denken zu überwachen, denn da das Denken das Tun
erzeugt, schien es zweckmäßig, hinter jedes Hirn einen
unsichtbaren Polizisten zu stellen, der darauf zu achten
hatte, daß alles respektiert werde, was zur Erhaltung der
Macht gehört. Vom ersten Lesebuch an, welches das Kind
in die Hände bekam, bis zum vaterländischen Geschichts¬
werk, vom ernsten Theaterstück, welches der Dramatiker
dem Bühnendirektor übergab, bis herunier zum kleinen
Touplet des Brettelsängers wurde jede Zeile auf ihren
Geist und die Harmlosigkeit oder Bösartigkeit dieses
Beistes geprüft. Die Methode hatte einen bestimmten
Zweck: die Erhaltung der Macht. Wer diese Macht be¬
ahte, mußte logischerweise auch die Mittel zu ihrer Er¬
haltung gutheißen, wer sie verneinte, sah in dieser
Methode das größte Hindernis einer wirklichen Befreiung
der Köpfe.
Nun leben wir, sagt man, in der Freiheit. Wir
könnten zumindest frei leben, weil der Zwang, ein kom¬
pliziertes Herrschaftssystem aufrechtzuerhalten, wegfällt.
Der Staat kann sich auf seine natürlichen Funktionen
beschränken: der Schützer des Lebens und Eigentums,
Polizist und Nachtwächter zu sein. Woher kommt es nun,
daß er dennoch rückfällig, daß er Mentor und Vormund,
Einbrecher in die Privatsphäre des Bürgers wird? Dies
abstrakten Ungeheuers „Staat“, sondern an dem wider¬
wärtigsten Menschentypus, an den sogenannten Oberlehrer¬
Seelen, die von der absonderlichen Idee besessen sind,
ich um Dinge zu kümmern, die sie gar nichts angehen,
dabei aber den Vorwand gebrauchen, es handle sich bei
dieser Einmischung in die Privatsphäre der Mitmenschen
um das „allgemeine Wohl“, um das „sittliche Heil“ und
dergleichen mehr.
Das „Reigen“=Beispiel: Es ist jedermann gestattet,
Schnitzlers kleine Szenenreihe für was immer zu halten,
Gefallen daran zu finden oder in ihr, wie so viele der
öffentlichen Schwätzer getan, eine „Schweinerei“ zu sehen.
Jeder hat das Recht, seine Dummheit zu plakatieren, die
Armseligkeit und Dürftigkeit der eigenen Natur — es
kann daher niemand verwehrt werden, den Wiener Dichter
mit Unrat zu bewerfen. Nur eines sollten alle öffentlich
Wirkenden, Politiker, Staatsmänner und Journalisten
ndlich kapieren lernen, daß sie kein wie immer geartetes
„Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“.
Necht besiten, sich in die Privatsphäre ihrer Mitmenschen
einzudrängen. Dies nämlich ist der fundamentale Unter¬
schied zwischen Barbarei und Gesittung, zwischen Knechtung
und Freiheit, ob die Privatsphäre des einzelnen unan¬
getastet bleibt von frechen Einbrüchen und Betastungen.
Und die Frage der „Reigen“=Aufführungen ist eine
Pripatangelegenheit jedes einzelnen der Kamimerspiel
r. Verstehen das die Politiker nicht? Wollen die
aufgeregten Eiferer diese einsache Tatsache nicht begreifen?
Der Politiker kann, wenn er will, auf der Tribüne sagen
ihm gefalle es nicht, daß die Bühnen nur das erorische
Thema behandeln; er barf aber den Mitmenschen,
dem das erotische Thema amüsanter und wichtiger
erscheint als politisches Geschwätz, nicht vergewaltigen
wollen. Der Theaterkritiker kann, wenn es ihm Spaß
der
macht, alle Argumente gegen die Aufführung
Schnitzlerschen Szeuen aufmarschieren lassen. Aber eines
darf er nicht; er darf nicht nach der Polizei schreien.
Das ist anmaßende Frechheit und schmutzigsie Lumperei
obendrein. In einem gesitteten Gesellschaftszustand
muß es jedermann gestattet sein, sich die Art des Ver¬
gnügens und der Unterhaltung selbst zu bestimmen. Die
Menschen, die abends das Kammerspielhaus besuchen,
sind
dem Staat vielleicht Steuerreste, aber auf keinen
Fall
Rechenschaft darüber schuldig, ob der „Reigen“ ihrer
„Sittlichkeit“ zuträglich oder abträglich ist. Und die Herren
Richter in den Redaktionen geht der Geschmack und das
leibliche Wohl der Theaterbesucher schon gar nichts an.
Es wirkt aufreizend, Politiker und Journalisten als Ober¬
i#er der Gesellschaft zu sehen, in der Rolle des Klassen¬
standes, der den Theaterbesuch der Schüler unter
Zensur stellt. Wenn man sich der Mühe unterzöge, etwa
die psychologischen Untergründe dieses Oberlehrertums zu
untersuchen, käme man ja sehr bald darauf, daß die
Sorge um die bedrohte „Sittlichkeit“ in den wenigsten
Fällen einem ibealen Irrium, sondern dem Mißverständnis
eines galligen Leibes entspringt, der seine physiologischen
Mängel als sittliches Plus umdeutet. Mit anderen Worten:
Sittliche Entrüstung ist meistens der Trauergesang eines
Feuchthänders. Dennoch: Wer sich in dieser Art demaskieren
will, mag's immerhin tun. Anders wird die Sache,
wenn er die Gewalt anruft. Dann muß man ihn
daran erinnern, wie unangenehm es ihm und seinesgleichen
war, als andere Apostel der Gewalt die Verhinderung
der Presse als das beste Mittel zur Hebung der Sittlich¬
keit empfahlen. Merkwürdigerweise waren es fast ganz
ähnliche Argumente, welche diese Gewaltanbeter vorbrachten.
Mit Recht hat man sich damals gegen die Bedrohung der
Presse gewehrt und die Freiheit jedes Druckerzeugnisses
gefordert. Soll das Theater anders beurteilt werden?
Will man wirklich den Geschmack oder das Unterhaltungs¬
bedürfnis einer Großstadt unter die Konirolle irgendeines
Polizeibeamten stellen? Es gibt ein sehr einfaches Mittel,
die sittlich entrüsteten Schreier zu beruhigen: Was ihnen
nicht gefällt, können sie meiden. Was die anderen tun,
geht sie nichts an.
Der gutmütige Wiener hat sich jahrhundertelang
bevormunden, schikanieren und zensurieren lassen. Er ver¬
traute den Oberlehrer=Naturen, war wirklich der Schüler,
dem das Maß geistiger Freiheit portionweise abge¬
messen wurde. Der Endeffekt der Oberlehrerei müßte ihm
endlich auch den letzten Rest von Autoritätsanbetung
nehmen. Er ziehe endlich die Konsequenz seiner Einsicht!
Er schüttle die Oberlehrer ab! Es ist genug der frechen
Bevormunhung Es hat niemand das Recht, um meine
14. Februar 1921
Sele, um meine Sitlichteit,
leibliches Wohl besorgt zu sein
die von dieser Sorge leben.
damit an, die Freiheit des
Sphäre seines Wollens zu res
(Die obigen Ausführun
Meinung unseres Mitarbeiter
wieder. D. Red.)
K Andmsssen