II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 380

11. Reigen
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Sprengung der heutigen Vorstellung des
„Reigen“
Stinkbomben und Prügelszeuen ims Zuschauer¬
raum. — Unterbleiben der Nachtvorstellung.
Wien, 10. Februar.
Was man mit mathematischer Gewißheif veraussehen
konnte, ist heute abend wirklich eingetreten. Die Vorstellung
des „Reigen“ in den Kammerspielen ist gesprengt worden,
eine zweite Vorstellung, die für 10 Uhr nachts angesetzt war,
mußte angesichts großer Schäfen, die während der Tumult¬
szenen im Zuschauerraum angerichtet worden waren, unter¬
bleiben, und mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen,
daß morgen ein polizeiliches Verbot weiterer Aufführungen
aus Sicherheitsgründen erfolgen dürfte. Die Straße, deren
Leidenschaften in den letzten Tagen genügend aufgepeitscht
worden waren, hat sich in den Streit um den „Reigen“ ein¬
gemischt und es vorgezogen, statt den Spruch des Ver¬
fassungsgerichtshofes abzuwarten, lieber Lynchjustiz
Theaterdingen zu üben. Stinkbomben im Theater, g#
prügelte und verjagte Theaterbesucher, demolierte Sitzplätze
und Hydranten als Kampfmittel der Demonstranten sins
die neuesten unerquicklichen Erscheinungen unseres Bühnen¬
betriebes. Den Parlamentskrawallen, die der „Reigen“ ent¬
fesselt hat, ist eine förmliche Straßenschlacht und ein Kamp
im Zuschauerraum der Kammerspiele auf den Fuß gefolgt.
Morgen aber wird man in den europäischen Hauptstädten
mit verwundertem Achselzucken erfahren, daß die Wiener al
demselben Tag, da dem wankenden Gebäude unserer Staats
inanzen ein weiterer Balken entzogen wird, da die ernst
fahr droht, daß ein Ausstand der Staatsbeamtenschaft unsc
gesamtes öffentliches Leben von heute auf morgen lahmlegen
könnte, Zeit und Muße gefunden haben, ihre einander wider¬
sprechenden Ansichten über die Zulässiakeit einer Theater
aufführung in derart gewalttätiger Weise auszutragen.
Was sich heute abend vor und in den Kammerspielen
zugetragen hat, ist allerdings unwienerisch im höchsten
Grade. Die heimische Theatergeschichte verzeichnet Bühnen
skandale und Theaterdemonstrationen in großer Anzahl.
Neuartig ist jedoch die kühle, wohlerwogene Planmäßigkeit,
mit der diesmal die Angelegenheit in Szene gesetzt wurde,
und bezeichnend für die Verwilderung des öffentlichen Tones
jene Rücksichtslosigkeit, die sich kaltblütig darüber hinweg¬
setzte, daß bei der Bauart des Theaters die gewaltsame
Störung der Vorstellung nur allzu leicht eine Panik von un¬
absehbaren Folgen nach sich hätte ziehen können. Die Be¬
handlung der „Reigen“=Angelegenheit hat auf allen Seiten
so viele beklagenswerte Fehler und Ungeschicklich
keiten mit sich gebracht, daß es weiter nicht verwunderlich
wenn die Sache schließlich in wilde Straßenexze
ausartete. Anhänger und Gegner des „Reigen"=Ves¬
botes haben mit tönenden Schlagworten gearbeitet, die
ihre Wirkung auf demonstrationslustige Elemente nich
verfehlen konnten, so wenig sachlich begründet
gewesen sein mag, bei diesem Anlaß die höhere Sittlichkeit
oder die Freiheit des Wortes zu bemühen. Wir haben von
allem Anfang an die Meinung ausgedrückt, daß gerade die
aufrichtigsten Verehrer des Dichters sein geistreiches Werk
dorthin zurückwünschen müssen, woher es stammt und wohin
es gehört, nämlich ins Buch. Wenn es auch keinem Zweifel
unterliegt, daß die Welt im allgemeinen und jene Welt im
besonderen, welche die „Reigen =Vorstellungen besuchte, und
ich unter polizeilicher Bedeckung an den Kassen¬
schaltern drängte, um das Geld für die Eintrittskarten los¬
zuwerden, durch die Aufführungen des „Reigen“
nicht
chlechter werden würde, so war anderseits gewiß keine
künstlerische Notwendigkeit vorhanden, die Schnitzlerschen
Dialoge sozusagen als Kinoprogramm einzurichten und
allabendlich zweimal hintereinander abschnurren zu lassen.
Die Ausbeutung der Konjunktur mag vom geschäftlichen
Standpunkt ebenso klug wie einträglich gewesen sein, aber sie
hat Gegnern des Stückes eine vortreffliche Waffe in