II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 446

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11. Reigen
Wien, Samstag, den 12. Februar
Die Abgeordneten und der
„Reigen“.
Die Fortsetzung der Aufführungen trotz des
Verbotes.
TRERR NNEUE FREIE PBASSR Februar.
Die Engländer nennen 1iehe Leute Faddisten. Das
sind Menschen ohne Sinn für das Wesentliche, Wichtigtuer,
die sich mit wahrer Wollust dem Unbedeutenden widmen.
Ein Weltuntergang findet solche Menschen damit beschäftigt,
dem Gegner eine Bosheit anzuhängen. Bei einer Feuers¬
brunst, wo alles in Asche fällt, werden sie vielleicht zanken,
weil der Nachbar sich bei der Flucht ein wenig vordrängt.
Der Staat geht in Trümmer, die Hoffnungslosigkeit brütet
über diesem Lande, die Kinder welken dahin und die Ziffern
des Defizits sind wie das Dröhnen einer Sturmglocke. Aber
die Herren im Parlament lassen sich nicht stören. Sie haben
viel Besseres zu tun, als den Geldwert zu retten, die Raserei
der Ausgaben einzudämmen und sämtliche Posten des
Voranschlages zu prüfen. Mit solchen Kleinigkeiten geben
wir uns nicht ab und auf einige Milliarden mehr oder
weniger kommt es ohnehin nicht an. Wir halten es mit der

Weisheit des Wurzusepp: Es kann dir nix g'scheh'n, denn
irgendwie werden wir schon im April zu essen haben, ob mit
Zetteldruck oder auf Kredit, ob mit türkischer Kontrolle oder
auf eigene Hand, ist gleichgültig. Das russische Nitschewo,
die lähmende Wurstigkeit, das vollkommene Versagen jedes
politischen Ernstes, das alles zeigte sich während der Rede
Dr. Grimms, die vor leeren Bänken gehalten wurde, vor
ein paar Dutzend Abgeordneten, in einem gelangweilten,
schlecht besetzten Hause ...
Aber siehe, dieses tote Parlament erwacht zum Leben.
Vorüber die Lethargie, abgetan die Mattigkeit und wie
elektrisiert die Atmosphäre. Plötzlich ist das Interesse
lebendig, erhitzt sich die Debatte und erregen sich
die
Abgeordneten. Woher kommt diese Aenderung? Weil
es
ich, mag tausendmal die Verfassungsfrage vorgeschützt
werden, um das berühmte Theatertinterl des Vormärz
handelt, um jene Kulissenluft, die ganz Oesterreich durch¬
dringt, und um jenen Bühnenklatsch, der die Wiener
leicht in Schwingung bringt. Andere Menschen können
kaum ertragen, sich jetzt mit Nebensächlichem zu befas
sen.
Die Abgeordneten haben es für richtig gehalten, einen
ganzen Sitzungstag über den „Reigen zu reden, während
das Gespenst der völligen Entmündigung schon umgeht und
die Messer gewetzt werden, mit denen der letzte Rest unserer
Freiheit geschlachtet wird. Man denke nur, was
geschehen ist. Der Minister des Innern hat es gewagt, über
die Majestät des Landeshauptmannes hinweg, ohne Rück¬
sicht auf seine Souveränität, das Stück von Schnitzler zu
verbieten. Er hat den Hetzereien nachgegeben und durch
eine etwas kühne Auslegung einer verrosteten Verordnung
ist ohne den Landeshauptmann das Verbot zustande ge¬
kommen. Wir sind die letzten, die solche Künsteleien
billigen. Vor allem schon deswegen, weil, wie sich heraus¬
stellt, die Bundesregierung gar keine Handhaben besitzt, um
hrem Willen Achtung zu verschaffen. Wir haben heute die
denkwürdige Tatsache zu verzeichnen, daß die Wiener
Behörden einen Vorgang zulassen, welchen die Bundes¬
regierung amtlich verbietet. Wir sehen die Unbeholfenheit
mancher leitenden Faktoren und die Anarchie, die sich
immer tiefer eingräbt. Eines ist sicher: Oft dürfen
ich solche Fälle nicht wiederholen, denn sonst
müßte die Sorge, die bei der Bildung des Mini¬
steriums geäußert wurde, die Sorge insbesondere
wegen der Staatsautorität, sich steigern. Die Bundes¬
regierung darf nicht vor aller Augen bloßgestellt werden
und sie darf nichts unternehmen, was über ihre Kräfte
geht. Sie darf nicht auf dem schmalen Pfade, der ihr
gegeben ist, ausgleiten und den Gegnern billige Siege ver¬
Haus Unruh“
Fr. 112.
1921.
schaffen, die nach Belieben parteipolitisch ausgenützt werder
können.
Es ist jedoch nicht mehr die Zeit für parlamentarische
Einzelschlachten. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht, ein
Volksverrat an Oesterreich, über etwas anderes zu verhandeln
als über das Heil des Landes und undere Wünsche walten
zu lassen als die Sehnsucht nach Rettung und Erneuerung.
Von rechts wie von links müßte alles vermieden werden, was
dem Auslande den Vorwand bietet, uns herabzuwürdigen
und was den Eindruck der bübischen Verspieltheit mit sich
bringt. Wie soll es verstanden werden, wenn ein Mann in
der Stellung des Präsidenten Seitz förmlich die Revolution
an die Wand malt, wenn die Bundesregierung den Versuch
machen wollte, die Aufführung zu verhindern. Welche
Schande für das Parlament, daß die Abgeordneten beinahe
mit den Fäusten aufeinanderschlagen, alles aus Wut wegen
Niemand kann leugnen,
der Aufführung des „Reigen“!
daß dieses Stück bei vielen Zuschauern Empfindungen her¬
vorruft, die nicht mehr als künstlerische bezeichnet werden
können, und daß trotz aller Genialität die Beimischung des
im schlechten Sinne Lüsternen nicht ausgeschlossen ist. Ebenso¬
wenig jedoch kann dieses Herumtasten von Erlaubnis zu Verbot,
von Läßlichkeit zu äußerster Strenge der Sachlage entsprechen.
Der Konflikt muß rasch beseitigt werden, weil sonst die
Bundesregierung in eine ähnliche Lage käme wie die Re¬
gierung während der französischen Revolution, als das Rat¬
haus von Paris stärker war als das Ministerium und nichts
geschehen konnte, was die Commune nicht gestattete.
Die ganze Oeffentlichkeit wird sich jedoch in der Forde¬
rung vereinigen, daß die Abgeordneten endlich begreifen
mögen, was die Stunde gebietet. Mit Zittern muß daran
gedacht werden, wie das Ausland von uns denken wird und
welche unberechtigten Schlüsse aus solchen Episoden gezogen
werden. Wir haben eine amerikanische Zeitschrift vor Augen,
in welcher der Hilferuf der europäischen Mütter zur Dar¬
stellung gelangt und wo mit einer Herzlichkeit, die jeden wie
eine Wohltat berührt, das Schicksal Oesterreichs behandelt
wird. Werden es die Mildtätigen verstehen können, daß die
Parlamentarier sich wegen des „Reigen“ in den Haaren
iegen, wird man es ihnen klarmachen können, daß es sich
wiederum nur um eine Folge unserer schauerlichen Lage
händelt? Denn tatsächlich leben wir heute wie im Vor¬
die Willensäußerung lähmt, die Tatkraft zu Boden drückt
und jeden entschiedenen Vorstoß des Selbsterhaltungstriebes
indert. Nur kommt die Sklaverei nicht von innen, sondern
von außen, und sie ist noch ärger als in der damaligen Zeit,
denn sie ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich
und sie ist um so schwerer, weil die Verluste unwieder¬
bringlich und die Persönlichkeiten noch schwächlicher sind.
Aber genau so wie damals bewirkt das Ueber¬
maß der Erschöpfung, daß sich das Interesse verbröselt,
daß das Sumpertum sich immer mehr verbreitet und der
Sinn für Verhältnismöglichkeit verloren geht. In einem
Lande, das derart niedergeschmettert wurde, wo die
Ausgaben so sehr die Fähigkeiten übersteigen, da ist es
schließlich nicht zu verwundern, daß die Menschen, besonders
unbedeutende Menschen, ihre Erregungen dorthin schleudern,
wo Instinkt und Zufall sie hinleiten. Das ewige Ver¬
gebens, die ununterbrochene Zerbläuung, die nicht zu
heilende Krankheit müssen schließlich auf das höchste
irritieren und die parlamentarische Sittlichkeit zugrunde
richten. Der heutige Tag war ein schwarzer Tag des
Parlaments und kein Entschuldigungsgrund vermag den
Mangel an Staatsgefühl zu rechtfertigen und die Gleich¬
gültigkeit in den Zeiten der schwersten Not. Am besten wäre
es, diese Sitzung aus den Protokollen des Parlaments aus¬
zulöschen, damit wir nicht vor unseren Kindern und Enkeln
in Schande stehen und damit wir nicht erröten müssen, wenn
sie uns fragen, wie wir das Leiden dieses Friedens getragen
haben. Das Defizit kann nicht totgeschwiegen werden und die
Groteske einer Kampfdebatte über den „Reigen“ nach der
Rede des Finanzministers ist unerträglich. Es war das
Satirspiel nach der Tragödie.
4.—
Rudolfinerhaus. Ein Schüler und Freund Gant#u##