II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 457

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11. Reigen
42. 2.1921
Seite 4
Samslag
Wüste Lärmszenen im Wiener
Landtag.
Bürgermeister Reumann gegen den Minister des
Innern.
Originalbericht des „Neuen Wiener Journals“.)
Der Wiener Gemeinderat, der gestern wieder als Landtag für
Wien zu einer Sitzung zusammentrat, beschäftigte sich in dieser neb
anderen weniger belangvollen Dingen mit einem Antrage Breitners
auf Einhebung einer Adgabe von Kraftwagen und verlieh der betreffen¬
den Gesetzesvorlage seine Venahmigung. Am Schlusse der Tagesordnung
gelangte ein Dringlichkeitsantrag. Speisers betreffend das vom
Bundesminister für Inneres und Unterricht, Dr. Glanz, erlassene
Verbot der weiteren Aufführung des vielumstrittenen S#h#i###schen
Schauspiels „Reigen zur Dehatte. Schon die Ankündigung deses
Antrags löste bei den Chrislichsegialen lebhaffe Zwischenrufe aus,
die
eine stürmische Auseinandersetzung erwarten ließen. Es fielen Rufe wie:
„Sauspiel!“ Schweinerei!“ und ein vielstimmiges „Pfui!“.
Stadtrat Speiser verlas seinen Antrag, in dem es heißt:
„Nach der Theaterverordnung vom 14. November 1850 bedarf
jede Bühnenproduktion vor ihrer erhen Darstellung der Aufführungs¬
bewilligung von Seite des Statthalters. Nach § 5 kann die erseilte Be¬
willigung aus Beweggründen der öffentlichen Ordnung jederzeit zurück¬
genommen werden Zuständig zur Erteilung einer Aufführungsbewilligung
Hund zur Zurücknahme der Bewilligung ist somit der Statthalter. Nach
dem neuen Bundesverfassungsgesetz ist an Stelle des Statthaliers der
Landeshauptmann getreen. Das Verbot des Bundesministers für
Inneres und Unterricht greift allo in die Komperenz des Landeshaupt¬
manns ein. Ich stelle daher den Antrag: Der Herr Bürger¬
meister als Landesbauptmann wolle die Auto¬
nomie des Laudes Wien gegen jeden Eingriff
der Bundesregierung energisch wahren.
Der Antragsteller bemerkre am Schluß der Verlesung seines An¬
trages unter fortwährenden stürmischen Zwischenrufon, der Zweck des
Antrages bei nicht, den Inhalt des Stückes zu verteidigen, sondern
hloß die Ankonomie des Wiener Landtages, der sich nicht als eine
Stelle für Theaterkritik aufspielen solle.
Frau Gemeinderätin Dr. Motzko=Seitz, die als erste in
die Debatte eingreift, erklärt unter großer Unruhe, die nun von den
Sozialdemokraten ausgeht, daß der Landeshauptmann von Wien sich
schwer gegen das Volk von Wien versündigt habe. Es sei unglaublich,
daß dieses Stück „Reigen,
das, nichts anderes sei. als eine
Konzession auf die Geilheit eines auswärtigen Schietertums
in Wien aufgefühet werden dürfte und daß, entgegen allen Einsprachen
der Landeshauptmann von Wien dieses Stück schützt. — Rednerin erkebt
namens ihrer Partei „flammenden Protest gegen dieses Vor¬
gehen, das die Wärde und die Ehre deutscher Frauen auf das tiefste
verletzt". — „Wir Frauen von Wien“, ruft Frau Dr. Motzko in leiden
chaftlicher Erregung aus, „begeüßen es von ganzem Herzen, daß die
Regierung den Mut gehabt hat, diesem Skandal Einhalt zu gebieten,
und wir verlangen vom Landeshauptmann, daß er sein Verhalten hier
rechtfertige.
Aus dem fortgesetzten Lärm hört man nur den Ruf der Sozial¬
demokraten heraus: „Relbinger=Moral!
Kunschak, der mitten im Tumult das Wort ergreift, führt
unter anderem aus: Nicht nur die Bevölkerung Wiens, sondern auch
die anderer Städte und auch die des Deutschen Reiches habe die Auf¬
führung des „Reigen“ abgelebut und wenn schon der Friedensvertrag
den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland nicht gestatte, so sei doch
nicht verboten, daß wir uns in sittlicher und kultureller Beziehung an
das deutsche Volk anschließen.
Auf einen Zwischenruf der Christlichsozialen erwidert der Vor¬
sitzende Schorsch, der Gegenstand der Debatte handle sich um erwas
das, wenn der Antrag richtig ist, die Autonomie des Landeshaupt¬
mannes verletzen soll. Kunschak beantragte, anknüpfend an diese
Bemerkung des Vorsivzenden, den Antrag Speiser zu prüfen und dem
Landtag über das Ergebnis dieser Brüsung Bericht zu erstatten.
Der Lärm tobt ununterbrochen fort. Er verstummt während der
nun folgenden Rede des Bürgermeisters Reumann für kurze Augen¬
blicke, um immer wieder von neuem loszudrechen. Der Bürgermeister
spricht in großer Erregung und zuweilen mit Aufgebot seiner ganzen
Stimmittel.
Die Rede des Landeshauptmanns Reumann.
Landeshauptmann Reumann bedauert es, daß der Anlaß zu
dieser Debatie über ein michtiges Versassungsrecht die Ursache
in der Aufführung des Reigen“ hat. Er hätte gewünscht, daß ein
wichtigerer Anlaß dazu Gelegenheit gegeben hätte. Da nun diese Frage
so vom Zaune gebrochen wurde, so müsse er vor allem darauf ver¬
weisen, daß in den perschiedensten Tingeltengels die Sittlichkeit verletzt
werde. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Die christlichsozialen
Gemeinderäte machen in zahlreichen Zwischenrufen dem Redner Ein¬
wendungen.)
Landeshauptmann Reumann: Denken Sie nur an den
Wimberger! Die Erinnerung an die Madame Aschanti
ist Ihnen sehr zuwider. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.
Heftige Gegenrufe bei den Chrislichsozislen
n
Neues Wiener Journa!
Rechte um kein Jota abweichen. (Lebhafte Zustimmung bei
den Sozialdemokraten, Gegenrufe bei den Christlichsozialen) Das ist
die Entscheidung und nun soll Heer Glanz das
Gesetz verletzen!
Gegen Schluß der Rede des Landeshauptmanns, die zum großen
Teil von Gegenrufen der christlichsozialen Gemeinderäte begleitet war,
steigern sich die Gegenrufe immer mehr.
Die Sozialdemokraten jubeln
dem Bürgermeister zu. Es werden Rufe laut: „Nieder mit der
stegierung!“ „Abzug Glauz!
Knnschak protestiert dagegen, daß der Landeshauptmann als
stärkstes Argument zum Schutze der Ehre der Gemeinde Wien es nicht
gegen seinen Geschmack gefunden habe, zu verweisen auf einen Fall,
er sich vor einem Vierteljahrhundert in Wien ereignet hat und einen
Mann betifft, über dessen Leib schon seit fünfzehn Jahren der
Rasen liegt, obwohl der Landeshauptmann wissen mußte, daß
der Mann, der das erste Mal dieses Argument gegen
den per storbenen Abgeordneten Gregorig gebrauchte, vom Gerichte
als Verleumder mit mehrmonatiger Kerkerstrafe bestraft worden ist.
(Lebhafte Pfuirufe und Rufe: So ein Landeshauptmann! Leichen¬
schändung!
Der Antrag des Abgeordneten Kunschak wird sodann von
der Mehrheit abgelehnt. der Antrag Sveiser mit genügender
Mehrheit der geschäftsordnungmäßigen Behandlung zugewiesen.
Die Landtagssitzung wird hierauf geschlossen
und nun erledigt der Gemeinderat als solcher eine Reihe wenig
belangvoller Angelegenheiten. Die Gemeinderatssitzung.
die einen ruhigen Verlauf nahm, währte bis in die Nachtstunden.
In den Kammerspielen.
Die Vorstellung ohne Zwischenfall ver¬
laufen.
Nach dem gestrigen Krawall im Parlament bestand die Be¬
ürchtung, daß es bei der Vorstellung des „Reigen“ in den
Kammerspielen zu Störungen kommen werde. Diese Befürchtung
stellte sich aber als unbegründet heraus. Die Vorstellung verlief
vollständig ruhig. Die Polizeiwache war auf zehn Mann und
einige Detektivs verstärkt worden, von denen einige
im
Zuschauerraume bei den Türen standen.
Die Vor¬
tellung war ausverkaust. Direktor Bernau,
der
mit einigen Künstlern eine Zeitlang im Vestibüle weilte.
äußerte sich zu mehreren Journaltsten, daß er den „Reigen“ fort¬
spielen werde, da er kein Verbot erhalten habe. Er hoffe, daß
es zu keinen Störungen kommen weide, da seitens des Publikums
im Theater bisher kein Protest gegen das Stück geäußert worden
sei. Das Stück sei kein unsittliches. Wenn dennoch der Versuch
gemacht werde, die Vorstellung durch bestellte Radaumacher zu stören
so müßte erwartet werden, daß die Polizei die Ruhestörer entferne.
Direktor Bernau teilte mit, daß er gestern bei Minister
Glanz vorgesprochen und sich bereit erklärt habe, falls Ein¬
wendungen gegen das Stück erhoben werden, durch etwaige
Kürzungen oder durch Herablassen eines Vorhanges an gewissen
Stellen sein Entgegenkommen gegenüber den Behörden zu zeigen
Jedenfalls werde er im Falle eines Verbotes mit allen Mitteln
und durch alle Instanzen des Rechtsweges die Wiederbewilligung
des Stückes erkämpsen.