II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 506

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11. Reigen
1921.
Wien, Samstag, den 12. Februar
schaffen, die nach Belieben parteipolitisch ausgenützt werden
können.
Die Abgeordneten und der
Es ist jedoch nicht mehr die Zeit für parlamentarische
Einzelschlachten. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht, ein
„Reigen“.
Volksverrat an Oesterreich, über etwas anderes zu verhandeln
Die Fortsetzung der Aufführungen trotz des
als über das Heil des Landes und undere Wünsche walten
zu lassen als die Sehnsucht nach Rettung und Erneuerung.
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Von rechts wie von links müßte alles vermieden werden, was
WIEN
Wien, 11. Februar.
dem Auslande den Vorwand bietet, uns herabzuwürdigen
und was den Eindruck der bübischen Verspieltheit mit sich
Die Engländer nennen solche Leute Faddisten. Das
bringt. Wie soll es verstanden werden, wenn ein Mann in
sind Menschen ohne Sinn für das Wesentliche, Wichtigtuer,
der Stellung des Präsidenten Seitz förmlich die Revolution
die sich mit wahrer Wollust dem Unbedeutenden widmen.
an die Wand malt, wenn die Bundesregierung den Versuch
Ein Weltuntergang findet solche Menschen damit beschäftigt,
Welche
machen wollte, die Aufführung zu verhindern.
dem Gegner eine Bosheit anzuhängen. Bei einer Feuers¬
Schande für das Parlament, daß die Abgeordneten beinahe
brunst, wo alles in Asche fällt, werden sie vielleicht zanken,
mit den Fäusten aufeinanderschlagen, alles aus Wut wegen
weil der Nachbar sich bei der Flucht ein wenig vordrängt.
der Aufführung des „Reigen“! Niemand kann leugnen,
Der Staat geht in Trümmer, die Hoffnungslosigkeit brütet
daß dieses Stück bei vielen Zuschauern Empfindungen her¬
über diesem Lande, die Kinder welken dahin und die Ziffern
vorruft, die nicht mehr als künstlerische bezeichnet werden
des Defizits sind wie das Dröhnen einer Sturmglocke. Aber
können, und daß trotz aller Genialität die Beimischung des
die Herren im Parlament lassen sich nicht stören. Sie haben
im schlechten Sinne Lüsternen nicht ausgeschlossen ist. Ebenso¬
viel Besseres zu tun, als den Geldwert zu retten, die Raserei
wenig jedoch kann dieses Herumtasten von Erlaubnis zu Verbot,
der Ausgaben einzudämmen und sämtliche Posten des
von Läßlichkeit zu äußerster Strenge der Sachlage entsprechen.
Voranschlages zu prüfen. Mit solchen Kleinigkeiten geben
Der Konflikt muß rasch beseitigt werden, weil sonst die
wir uns nicht ab und auf einige Milliarden mehr oder
Bundesregierung in eine ähnliche Lage käme wie die Re¬
weniger kommt es ohnehin nicht an. Wir halten es mit der
gierung während der französischen Revolution, als das Rat¬
Weisheit des Wurzelsepp: Es kann dir nix g'scheh'n, denn
haus von Paris stärker war als das Ministerium und nichts
irgendwie werden wir schon im April zu essen haben, ob mit
geschehen konnte, was die Commune nicht gestattete.
Zetteldruck oder auf Kredit, ob mit türkischer Kontrolle oder
Die ganze Oeffentlichkeit wird sich jedoch in der Forde¬
auf eigene Hand, ist gleichgültig. Das russische Nitschewo,
rung vereinigen, daß die Abgeordneten endlich begreifen
die lähmende Wurstigkeit, das vollkommene Versagen jedes
mögen, was die Stunde gebietet. Mit Zittern muß daran
politischen Ernstes, das alles zeigte sich während der Rede
gedacht werden, wie das Ausland von uns denken wird und
Dr. Grimms, die vor leeren Bänken gehalten wurde, vor
welche unberechtigten Schlüsse aus solchen Episoden gezogen
ein paar Dutzend Abgeordneten, in einem gelangweilten,
werden. Wir haben eine amerikanische Zeitschrift vor Augen,
schlecht besetzten Hause ...
in welcher der Hilferuf der europäischen Mütter zur Dar¬
Aber siehe, dieses tote Parlament erwacht zum Leben.
stellung gelangt und wo mit einer Herzlichkeit, die jeden wie
Vorüber die Lethargie, abgetan die Mattigkeit und wie
eine Wohltat berührt, das Schicksal Oesterreichs behandelt
elektrisiert die Atmosphäre. Plötzlich ist das Interesse
wird. Werden es die Mildtätigen verstehen können, daß die
lebendig, erhitzt sich die Debatte und erregen sich die
Parlamentarier sich wegen des „Reigen“ in den Haaren
Abgeordneten. Woher kommt diese Aenderung? Weil es
liegen, wird man es ihnen klarmachen können, daß es sich
sich, mag tausendmal die Verfassungsfrage vorgeschützt
wiederum nur um eine Folge unserer schauerlichen Lage
werden, um das berühmte Theatertinterl des Vormärz
handelt? Denn tatsächlich leben wir heute wie im Vor¬
handelt, um jene Kulissenluft, die ganz Oesterreich durch¬
märz. Genau so wie damals herrscht eine Sklaverei, welche
dringt, und um jenen Bühnenklatsch, der die Wiener so
die Willensäußerung lähmt, die Tatkraft zu Boden drückt
leicht in Schwingung bringt. Andere Menschen können es
und jeden entschiedenen Vorstoß des Selbsterhaltungstriebes
kaum ertragen, sich jetzt mit Nebensächlichem zu befassen.
hindert. Nur kommt die Sklaverei nicht von innen, sondern
Die Abgeordneten haben es für richtig gehalten, einen
von außen, und sie ist noch ärger als in der damaligen Zeit,
ganzen Sitzungstag über den „Reigen zu reden, während
denn sie ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich
das Gespenst der völligen Entmündigung schon umgeht und
und sie ist um so schwerer, weil die Verluste unwieder¬
die Messer gewetzt werden, mit denen der letzte Rest unserer
bringlich und die Persönlichkeiten noch schwächlicher sind.
Freiheit geschlachtet wird. Man denke nur,
was
wie damals bewirkt das Ueber¬
Aber genau
so
geschehen ist. Der Minister des Innern hat es gewagt, über
maß der Erschöpfung, daß sich das Interesse verbköselt,
die Majestät des Landeshauptmannes hinweg, ohne Rück¬
daß das Sumpertum sich immer mehr verbreitet und der
sicht auf seine Souveränität, das Stück von Schnitzler zu
Sinn für Verhältnismöglichkeit verloren geht. In einem
verbieten. Er hat den Hetzereien nachergeben und durch
Lande, das derart niedergeschmettert wurde, wo die
eine etwas kühne Auslegung einer verrosteten Verordnung
Ausgaben so sehr die Fähigkeiten übersteigen, da ist es
ist ohne den Landeshauptmann das Verbot zustande ge¬
schließlich nicht zu verwundern, daß die Menschen, besonders
kommen. Wir sind die letzten, die solche Künsteleien
unbedeutende Menschen, ihre Erregungen dorthin schleudern,
billigen. Vor allem schon deswegen, weil, wie sich heraus¬
Das ewige Ver¬
wo Instinkt und Zufall sie hinleiten.
stellt, die Bundesregierung gar keine Handhaben besitzt, um
gebens, die ununterbrochene Zerbläuung, die nicht zu
ihrem Willen Achtung zu verschaffen. Wir haben heute die
auf das höchste
heilende Krankheit müssen schließlich
denkwürdige Tatsache zu verzeichnen, daß die Wiener
irritieren und die parlamentarische
Sittlichkeit zugrunde
Behörden einen Vorgang zulassen, welchen die Bundes¬
richten. Der heutige Tag war ein
chwarzer Tag des
regierung amtlich verbietet. Wir sehen die Unbeholfenheit
Parlaments und kein Entschuldigungsgrund vermag den
mancher leitenden Faktoren und die Anarchie,
Die
sich
Mangel an Staatsgefühl zu rechtfertigen und die Gleich¬
immer tiefer eingräbt. Eines ist sicher: Ost
dürfen
gültigkeit in den Zeiten der schwersten Not. Am besten wäre
sich solche Fälle nicht wiederholen, denn
sonst
es, diese Sitzung aus den Protokollen des Parlamenes aus¬
müßte die Sorge, die bei der Bildung des Mini¬
zulöschen, damit wir nicht vor unferen Kindern und Enkeln
steriums geäußert wurde, die Sorge insbesondere
in Schande stehen und damit wir nicht erröten müssen, wenn
wegen der Staatsautorität, sich steigern. Die Bundes¬
sie uns fragen, wie wir das Leiden dieses Friedens getragen
regierung darf nicht vor aller Augen bloßgestellt werden
haben. Das Defizit kann nicht totgeschwiegen werden und die
und sie darf nichts unternehmen, was über ihre Kräfte
Groteske einer Kampfdebatte über den „Reigen“ nach der
geht. Sie darf nicht auf dem schmalen Pfade, der ihr
Rede des Finanzministers ist unerträglich. Es war das
gegeben ist, ausgleiten und den Gegnern billige Siege ver= Satirspiel nach der Tragödie.