II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 534

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Die Worte des Präsidenten, der die
Abgeordneten Witternigg und Zelen!g
zur Ordnung ruft, gehen im Tumult unter.
Vor der Ministerbank kommt es zu
Keilereien zwischen Sozialdemokraten und
Christlichsozialen.
Die Ordner geben sich angestrengteste
Mühe, die raufenden Gruppen zu trennen
Ein Teil der christlichsozialen Abgeordneten
drängt sich gegen die Sozialdemokraten, die
vor der Ministerbank stehen, vor, unter den
fortgesetzten Rufen: Juden, Saujuden,
Füdenbagage! Allen voran agitiert der
steirische Christlichsoziale Pischitz. Es kommt
zu wüsten Szenen, in deren Verlauf
chließlich der Abgeordnete Sever mit dem
Ellenbogen des Herrn Pischitz in sehr
unsanfte Berührung gerät. Man
hört nur einen wüsten Lärm und das Läuter
der Glocke des Präsidenten Weiskirchner
der schließlich das Bedauern über diese
Vorfälle ausspricht, die die Würde des Hauses
verletzen.
Ein schwerer politischer Fehler.
Abg. Seitz: Die höchst bedauernswerten
Szenen, die sich hier ereignet haben, sind, wie
ich glaube, auf einen schweren politi¬
schen Fehler der christlichsozialen Parte
und der Mehrheit in diesem Hause überhaupt
zurückzuführen. Oesterreich ist viel zu schwach
um eine Regierung von Angestellten
oder gar Söldlingen zu ertragen. (Leb¬
hafte Zwischenrufe bei den Christlichsozialen.
Wenn hier immer von der bedrohten Sittlich
keit gesprochen wird, die Sittlichkeit der
Wiener Arbeiter wird durch die Aufführung
des „Reigen“ nicht verletzt, weil die Arbeiter
nicht hingehen. Und wer sonst immer für seine
Sittlichkeit fürchtet, hat ja die Freiheit, an dem
Theater vorüberzugehen. Um was es sich
handelt, ist die politische Frage, die
Frage der Verfassungsmäßigkeit
dieses Erlasses des Dr. Glanz.
In den Couloirs.
Nach Schluß der Sitzung spielte sich in
den Couloirs eine erregte Szene ab. Als
Dr. Glanz durch die Raume schritt, tönten
ihm Rufe entgegen: „Machts Platz für den
anständigen Minister! Wir werden ihm'
schon zeigen.“
Dr. Glanz reagierte mit keiner Silbe
auf
die Zurufe.
Lärmßenen im Wiener Landtag.
Ein sozialdemokratischer Antrag zur
Wahrung der Autonomie.
Die Lärmszenen wegen des „Reigen“
Verbotes fanden am Abend in der Sitzung
des Wiener Gemeinderates als
Landtag ihre Fortsetzung.
Präsident Dr. Danneberg teilte mit
daß die Gemeinderäte Speiser und Ge¬
sossen anläßlich des „Reigen“=Verbotes dich
die Bundesregierung den Dringlich
keitsantrag eingebracht haben: Der
Bürgermeister als Landeshauptmann wolle die
Autonomie des Landes Wien
gegen jedweden Eingriff der
Bundesregierung energisch
wahren.
Frau Gemeinderätin Dr. Seitz¬
Motzko begleitete die Verlesung dieses
Dringlichkeitsantrages mit lebhaften Pfu¬¬
rufen und begann mit ihrer Pultlade
zu klopfen. Auch andere Mitglieder der
Minorität machten lebhafte Zwischenrufe. Dem
Antrage wurde sodann die Dringlich
keit zuerkannt.
Kleine Volks=Zeilung.
Sodann ergriff Gmr. Kunschak unter
eftigen Zwischenrufen das Wort. Wenn schon
der Friedensvertrag den Anschluß Oesterreichs an
das Deutsche Reich untersage, so sei doch nicht
verboten, daß sich Oesterreich in sittlicher
und kultureller Beziehung an
as Deutsche Reich anschließe
Der Erlaß wird nicht durchgeführt.
Landeshauptmann Reumann be
dauerte, daß der Anlaß zu dieser Debatte über
ein wichtiges Versassungsrecht die Aufführung
es „Reigen“ sei. Er hätte gewünscht,
aß ein wichtigerer Anlaß dazu Ge¬
o vom Zaune gebrochen wurde, müsse er vor
allem darauf verweisen, daß in den ver¬
chiedensten Tingel=Tangels die Sitt¬
ichkeit verletzt werde. (Zwischenrufe bei den
Cheistlichsozialen.) Denken Sie nur an den
Wimberger! Die Ecinnerung an die
Madame Aschänti“ ist Ihnen sehr
zuwider.
Landeshauptmann Reumann er¬
lärte schließlich, er stehe auf dem Stand¬
unkt, daß jeder einzelne berufen sei, das
Verfassungsrecht der Stadt Wien nicht schänden
zu lassen. Das würde geschehen, wenn man
iner Vorschrift zustimmen würde, die von
inem Mann gegeben werde, der nichts zu
diktieren habe. Redner habe keine Ur¬
sich zum Bedienten des
ache,
Herrn Glanz herabzuwürdigen.
Herr Glanz habe ihm in beispielloser Ueber¬
hebung einen Erlaß zugesendet, in dem er an
Schlusse verlange, daß er die Aufführungs¬
bewilligung des „Reigen“ außer Kraft setze
Hiezu habe Herr Glanz kein Recht, und er
abe ihm eine Antwort erteilt, in der
es heißt: „Die Magistratsabteilung 55
vurde von mir beauftragt, mit
der exekutiven Durchführung
des diesämtlichen Erlasses im
Wege der Polizeidirektion
in wezühalten. Ich werde als Lan¬
deshauptmann von dem mir
zustehenden Rechte um kein Jota
abweichen. (Lebhafte Zustimmung bei den
Spzialdemokraten, Gegenrufe bei den Christ¬
ichsozialen.)
Gegen Schluß der Rede des Landeshaupt¬
mannes, die zum großen Teil von Gegenrufen
der christlichsozialen Gemeinderäte begleitet
war, steigerten sich die Gegenrufe immer mehr.
Die Sozialdemokraten riefen schließlich
„Nieder mit der Regierung
Abzug Glanz!“
Der Dringlichkeitsantrag Speiser wurde
chließlich der geschäftsordnungsmäßigen Be¬
handlung zugewiesen.
Der „Reigen“ wird weiter aufgeführt.
Ruhiger Verlauf der gestrigen Vorstellung.
Die gestrige Aufführung von Schnitzters
Reigen“ ging ohne Störung vor sich. Den
Schußz des Theatergebäudes hatte eine kleine
Wacheabteilung übernommen und das Theater¬
gebäude durften nur Besitzer von Eintritts¬
arten betreten.
Direktor Bernau erklärt, er sei bereit
lenderungen in der Inszenierung des
Schnitzlerschen Werkes vorzunehmen, beispiels¬
veise statt der Verdunkelung der Bühne den
Vorhang fallen zu lassen. Ferner will er an
den Plakaten und Theaterzetteln den Vermerk
rucken lassen: „Eintritt für Jugend¬
siche nicht gestattet.“ Im übrigen
erklärte Direktor Bernau, den „Reigen“
beiser auf dem Spielplan zi
lassen.
Samstag 12. Februar 1921
Friede zwischen Außland und
Polen.
Der Vertrag bereits unterzeichnet.
Paris, 11. Februar. Ein Radiofunk¬
pruch aus Moskau besagt, daß der
polnisch=russische Friedens¬
vertrag gestern unterzeichnet
worden sei.
Die Antwort der Eutente an
Oesterreich.
Kein formelles Anschlußverbot.
Wie verlautet, wird gegenwärtig von der
Pariser Botschafterkonferenz die Antwort der
Entente an Oesterreich betreffs der Hilfeleistung
fertiggestellt. Sie wird sich nicht nur mit dem
nateriellen Beistand, sondern auch mit der Er¬
leichterung von Verkehrsbeziehungen zu den
Nachbarstaaten befassen und daher auch an
deren Adresse gerichtet sein. Ein formelles
Anschlußverbot soll in der Antwort¬
note nicht enthalten sein.
Volen und Habsburger.
Von polnischer diplomatischer Seite erhält
die Politische Korrespondenz“ die Mitteilung,
daß sich die maßgebenden politischen Kreise
Polens an der Frage einer eventuellen Restau¬
ation der Habsburger vollkommen
unbeteiligt erklären.
Meutereien derti
schendstfeeflotte.
Angeblicher Vormarsch auf Petersburg.
Paris, 11. Februar. Ueber Kopenhagen
verden
aus Kronstadt gewaltige
Meutereien der russischen Ost¬
eeflotte gemeldet. Die Meuterer mar¬
chieren angeblich auf Petersbürg.
Das Heerwesen im Staats¬
Feranschlag.
Sitzung des Budgetausschusses.
In. Heeresausschuß wurde die Debatte
über das Kapitel „Heerwesen“ fortgeführt.
Berichterstatter Baugoin führte aus: Der
Gesamtstand an Wehrmännern sollte 26.423
Mann betragen, während tatsächlich
ur ein Stand von 19.943 erreicht
ist. Die systemisierten Stände der Offiziere und
Unteroffiziere sind nahezu erreicht. Die Be¬
züge der Heeresangehörigen sind jenen der An¬
gestellten der Gemeinde Wien angeglichen. Die
Pferdekosten sind abnorm groß. Nach dem
Nachtragsbudget stellen sich die Erhaltungs¬
osten für ein Pferd auf 36.323
ist
Kronen per Jahr. Der Pferdestand
weder bei der Kavallerie noch bei der Artillerie
auf den systemisierten Stand gebracht, im
Gegenteil, es gibt Schwadronen, die fast keinen
oder nur einen geringfügigen Pferdestand auf¬
weisen. Mit Anerkennung muß hervorgehoben
werden, daß die Wehrmacht bei Wetterkata¬
trophen, insbesondere bei der letzten großen
seberschwemmung, wacker eingegriffen
hat. Auch vor wenigen Tagen, als Wien einer
Katastrophe gegenüberstand und unsere
Straßen zu ungangbaren naßkalten Sümpfen
imgewandelt waren haben sich tausend Wehr¬
männer in den Dienst der Allgemeinheit ge¬
stellt. Das verdient volle Anerkennung.