II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 537

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sich radikal zu gebärden. Aber wie sollen sie die
Der Streit um den „neigen.
großen wirtschaftlichen und politischen Fragen ra
Im Parlament ist es gestern wieder einmal hoch
dikal behandeln? Das gerade wollten sie ju unter
hergegangen, beinahe wie in den schönsten Obstruk¬
allen Unständen vermeiden. So müssen sie es ver¬
tionszeiten des alten Kurienparlaments. Es gab
suchen, das Interesse der Massen auf minderwichtig
Schimpfreden, wüste Szenen, Faustschläge, Rippen¬
Fragen abzulenken. Das ist der Grund, warum
stöße und andere Kirchweihbelustigungen. Der An¬
sie in der letzten Zeit ihren Antiklerikalismus aus
laß? Schnitzlers „Reigen“!
der Rumpelkammer, in die er in der Koalitionszeit
gewandert war, wieder hervorgeholt und auf den
Der Bürgermeister hat als Landeshauptmann
Glanz hergerichtet haben. Das Verbot der „Rei¬
die Aufführung dieses Stückes gestattet. Darob
gen“=Aufführungen hat ihnen nur einen willkom¬
große Entrüstung unter den Christlichsozialen. Sie
menen Anlaß geboten, ihren Radikalismus auf eine
hatte aber nicht den gewünschten Erfolg, das Stück
ungefährliche und naiven Gemütern doch impo¬
vurde weitergespielt. Ein Rudel halbwüchsiger Jun¬
nierende Weise auszutoben.
gen störte eine Vorstellung, doch auch das war ver¬
gebene Mühe. Nun bearbeiteten die Christlichso¬
zialen ihre Regierung und diesmal hatten sie Glück.
Herr Dr. Glanz untersagte, obwohl er dazu gar
nicht berechtigt ist, die weiteren Aufführungen des
Schnitzlerschen Stückes. Im Nätionalrat erfuhr
man von diesem Verbot gestern mittags und die
Sozialdemokraten brachten##forteine dringliche
Anfrage ein. Worauf es, wie bereits erwähnt, zu
einer äußerst lebhaften und anregenden Ausein¬
andersetzung kam. Man ließ auf beiden Seiten das
schwerste Geschütz auffahren. Dr. Glanz erklärte
unter dem demonstrativen Beifall der Christlichso¬
zialen, jeder anständige Mensch werde ihm recht ge¬
en, und Seitz, der liebenswürdige, süße Seitz,
wurde geradezu revoluzerisch; er kündigte den
Thristlichsozialen an: „Wenn Sie mit bewaffneter
Gewalt vorgehen, so werden die Sozialdemokraten
auch
bewaffneten Widerstand entgegensetzen.“
Man steht hier vor zwei Lügen, einer christlich¬
sozialen und einer sozialdemokratischen. Wer soll
den Christlichsozialen die sittliche Entrüstung über
die „Reigen“=Aufführung glauben? In Wien wer¬
den nicht erst seit gestern, sondern seit Jahren, seit
Jahrzehnten die schweinischesten Stücke aufgeführt.
Haben sich die Christlichsozialen jemals darüber
aufgeregt? O ja, ihre Presse hat seit jeher ab und
zu der Zeiten Verderbnis bejammert, aber mit so
einer Jeremiade war die Sache auch immer erledigt.
Und nun auf einmal wollen sie der Welt einreden,
daß sie sich den „Reigen“ ein Kunstwerk, das mit
jenen Spekulationen auf die Lüsternheit nichts ge¬
mein hat, auf der Bühne unmöglich gefallen lassen
können! Ja, daß ihre Entrüstung so groß ist, daß
sie nicht einmal einen Verfassungskonflikt scheuen!
Und wer soll ernst bleiben, wenn Seitz für den
„Reigen“ seinen berühmten „letzten Revolver“
zieht? Die Sozialdemokraten sagen freilich, es han¬
delt sich nicht mehr um den „Reigen“ jetzt gilt es,
eine Verletzung der Verfassung zu ahnden. Aber
wer soll glauben, daß es ihnen mit dieser Erklärung
ernst ist? Sie haben erst vor ein paar Tagen, bei
der Verhandlung der Biersteuererhöhung, der Re¬
gierung einen Verfassungsbruch vorgeworfen und
ein Mißtrauensvotum gegen sie beantragt. Aber
nach dessen Ablehnung war die Sache für sie er¬
ledigt — trotz dem Verfassungsbruch! Und dieser
Fall steht nicht vereinzelt da: Wie oft hätten die
Sozialdemokraten in der letzten Zeit den ernstesten
Grund gehabt, den Christlichsozialen den Kampf
bis aufs Messer anzukündigen — doch sie haben sich
immer mit der „loyalen Opposition“ begnügt. Und
nun soll man ihnen glauben, daß sie die Arbeiter
für den „Reigen“ zu den Waffen rufen werden?
Die Not der Massen wird von Tag zu Tagsärger.
Also halten die Sozialdemokraten es für angezeigt,