II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 638

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Wenn ich auch weit entfernt bin davon, im „Reigen“ wie
einige übereifrige Anhänger Schnitz'ers behaupten, eine ihm
eigene besondere Keuschheit zu entdecken oder zu glauben, daß
ich in ihm Aspekte einer neuen Sittlichkeit eröffnen, so bleibt es
m Gegensatz zur astetischen Lebensauffassung ein aus¬
drucksvolles, modernes Dokument phy¬
sischer Lebensbejahung. Moralisten jedoch, die, über
den Verfall der Sitten klagend, über unsere Zeit den Stab
brechen, mögen sich daran erinnern, daß der „Reigen“ in dem
Minnedienst des glaubensinnigen Mit¬
telalters seine Vorgänger findet und daß
es damals nicht für unanständig galt, wenn der Ritter die
Nacht bei seiner Angebeteien zubrachte. („Es war die Nachtigall
und nicht die Lerche.*) Als literarisches Erzeugnis kann der
Reigen“ nicht in Acht und Bann erklärt
werden; es fragt sich nur, ob diese freie Auffassung
standhält, wenn es sich darum handelt, den Schemengestalten
durch die plastische Verkörperung auf der Bühne wirkliches
Leben einzuhauchen. Die Masse des Publikums ist nur
ür das Stoffliche empfänglich, und mag auch das
Gemeine durch die Form gebändigt sein, es bringt wenig Ver¬
ständnis mit für den idealen Kern, der sich hinter einem
Werke birgt. So wird auch bei dem „Reigen“ das nackte Sinn¬
liche, um nicht zu sagen das Pornographische die Menge in
erster Linie anziehen. Vor einigen Jahren wäre eine Auf¬
führung des „Reigen“ auf einer öffentlichen Bühne kaum denlhar
gewesen und hat auch der Dichter an eine solche Möglichkeit
chwerlich gedacht. Seither ist aber der Bann gebrochen worden
und das Publikum bereits gewöhnt, auch das Aergs##
sexuellen Fragen über sich ergehen zu lassen. Wedekind hat sich
mit seinen scheußlichen Perversitäten die Bühne erobert, die
Freudenhäuser biden das beliebteste Ausfl gsziel moderner
Bühnendichter und die Erotik im konkretesten physiologischen
Sinne ist das Kennzeichen moderner Dramatit geworden.
Ab und
zu
wurden schon früher dieser Geschmacks¬
richtung Konzessionen gemacht, zum Beispiel in der „Hauben¬
erche“ wo auf der Bühne ein Mädchen vergewaltigt wird.
Das Publikum ist somit bereits abgestumpft und vorbereitet,
auch den „Reigen“ oyne besonders überracht zu sein, entgegen¬
zunehmen. Den Brutalitäten der verschiedenen Dramen gegen¬
über, die in den letzten Jahren über die Bretter gegangen sind,
wirkt übrigens der „Reigen“ mit seinen jedenfalls in gesunde
Sinnesfreude getauchten gedämpften Farben
wie ein sanft verklingendes Adagio.
Wird dieses Bühnenwerk zugelassen, so wird ohne Zweifel
bei einem Teile der öffentlichen Meinung ein Entrüstungs¬
sturm losbrechen. Noch heftiger würden sich aber diese
Angriffe aus den weitesten Kreisen der intellek¬
uellen Welt erheben im Falle des Verbotes dieses Stückes.
Es wird dann heißen, daß die künstlerische Freiheit geknebelt werden
oll zu Gunsten einer heuchlerischen Prüderie, daß es dem all¬
gemeinen Menschlichen verwehrt wird, in seiner eigenen
Sprache natürlichen. wah haftigen Empfindens zum Volle zu
reden. Es handelt sich hier tatsächlich um den Kampf
zweier Weltanschauungen, um eine Stellungnahme
n wichtigen kulturellen Fragen. Nun erscheint es mir
geradezu tleinlich,
wenn die Zensur in diesen Kampf der Geister eingreift
und, den Maßstab der bürgerlichen Moral anlegend, kurzerhand
dem Dichter in die Arme fällt. Grillparzer spricht ein¬
mal aus, daß eine gute Zensur etwas sehr Nützliches wäre.
Ein guter Zensor dürfe aber nur das zulassen, was wahr
und schön sei, ohne zu fragen, ob es schädlich sein
könnte. Grillparzer zweifelt jedoch, immer Männer zu
finden, die sich das richtige Urteil zutrauen. Der gute
Zensor wird sich zurückziehen und seinen Platz Personen
überlassen, die wahr nennen, was bisher als wahr gegolten
hat und kalich, was sie nicht verstehen. Grillparzer kommt zum
Ergebnis: Eine schlechte Zensur ist ver¬
erblicher als gar keine. Der Dichter
faßt hier allerdings ausschließlich die ästhetische Seite ins Auge
und denkt nicht an die eigentliche Aufgabe der Zensur, um im
Interesse der öffentlichen Ordnung, der internationalen Be¬
ziehungen u. s. w. Verwicklungen vorzubeugen. Aber im all¬
emeinen lassen sich die von ihm ausgesprochenen Ansichten
auf das vorliegende Bühnenwerk ganz gut anwenden. Auch
hier handelt es sich um große Prinzipienfragen, um Wahrheit
und Schönbeit, und da erscheint es nur recht und billig,
wenn sich die Jensur in der Weise zurückzieht,
daß sie die Entscheidung dem Publikum überläßt, ein Vor¬
gang. der eigentlich in einer dem o¬
raiischen Republik keiner weiteren
Begründung bedarf. Ich bin überhaupt der Ansicht,
daß man in dieser Hinsicht nicht zu ängstlich sein
ollte. Ein Verhot würde eine ungeheure Propaganda füc
den „Reigen“ bedeuten und omit erst recht schädlich wirken, die
schließliche Aufführung aber doch nicht verhindern können. Denn
die Erfahrung hat gezeigt, daß sich trotz aller durch die Zensur
bereiteten Hindernisse noch jede Richtung, ja jedes verbotene
Stück (siehe Wedetind) endlich durchge etzt hat. Dem Vorwurf,
haß durch die Freigabe des „Reigen“ der Unmoral auf der
Bühne neuer Spielraum gewährt wird, möchte ich durch die
Erwügung begegnen, daß die so wünschenswerte Bekämpfung
der Unmoral
Sungerrüch rchen und Die Jurnr hriter dasteren Wolten sich
verbirgt, die deutsche Bühne keinen würdigeren Gegenstand
indet, als ein altes Stück hervoczuholen und mit seiner
immerhin entnervenden Erotik die Zuschauer zu betäuben. Be¬
äubung, Flucht aus der Gegenwart scheint ja das Treiben
aller jener zu sein, für die das Leben einen einzigen Fest¬
tag bildet.
Wennich mich trotzdem gewissermaßen contrabones mores für
die Zulassung des Stückes ausspreche, so
geschieht es deshalb, weil ich diese für das kleinere
Uebel halte und ich es nicht mehr für zeitgemäß
erachte, sich mit dem alten vergriffenen Mittel des Verbotes
der öffentlichen Meinung entgegenzustellen. Für den Fall der
Zulassung des Stückes muß jedoch die bestimmte Erwartung
ausge prochen werden, dat die Theaterregie mit be¬
onderem Takte ihres Amtes walte. Namentlich jene
Szenen, die im Textbuch mit Gedankenstrichen ausgefüllt sind
müssen in solchen Grenzen gehalten werden, daß dem Zu¬
chauer die Wahrnehmung des sinnlichen Vorganges erspart
bleibt. Auch muß darauf gedrungen werden, daß bei den
viederholt vorkommenden Entkleidungen und Ankleidungen
der Anstand so viel als möglich gewahrt wird, und entblößte
Körper dem Publikum nicht sichtbar werden. Endlich wäre als
Bedingung zu stellen, daß zu diesem Stücke nur Erwächsene
Zutritt haben.
Das Gutachten des Schriftstellers Glossy.
Die ausführliche Beurteilung dieser Dialoge in dem vor¬
stehendem Gutachtin, womit ich mich voklkommenein¬
verstanden erkläre, entheht mich einer weiteren eingehen¬
den Würdigung.
Schnitzlers Dialoge, künstlerisch gestaltet, zeigen einen
tiefen psychologischen Einblick in das Ge¬
schlechtsleben, sind durchaus nicht trivial und lassen
nicht verkennen, daß sie ein wirklicher Dichter ver¬
aßt hat. Trotz alledem hätte ich in früherer Zeit Bedenken
getragen, für die Aufführung einzutreten, in der Erwägung,
daß das Publikum derlei Szenen trotz ihrem bichterischen
Gehalt ablehnen werde. Von der Mehrheit des gegen¬
wärtigen Theaterpubiikums ist dies nicht zu befürchten.
on den Intellektuellen nicht, die den
tiefen Sinn dieser Dialoge erfassen werden, am wenigsten von
dem genußsüchtigen, das Prickelnde liebenden Philister,
der seit „Schloß Wetterstein“ mit derlei Vorgängen auf der
Böhne vertraut ist. Bleiben also nur die Prüden, eine
Minorität, der selbst die mindeste Form der Erotik bedenklich
erscheinen wird.
Ganz unbedingt möchte ich aber für die Zulassung nicht
eintreten. Nicht etwa der Dichtung, vielmehr der Darstellung
wegen. Gelingt es dieser, in den heiklen Situationen den
künstlerischen Takt zu bewahren, so ist meines Grachtens
gegen die Aufführung keine Einwendung
zu erheben. Ob hiezu ein amtlicher Auftrag an die
Regie genügt, schauspielerischen Enigleisungen vorzubeugen,
oder ob es erforderlich erscheint, daß vor der Entscheidung eine
Bühnenprobe in Anwesenheit der Zen urorgane stattfinde, muß
dem Ermessen der Behörde überlassen bleiben.
Gatachten des Präsidenten Dr. Friedrich Engel.
Von den zehn Dialogen können die zwei ersten trotz des
gewagten Gegenstandes nicht als unsittlich bezeichnet werden.
Die arme Dirne, das arme Stubenmädchen, die, nachdem der
Mann seine Lust gestillt hat, von ihm roh zurückgestrßen
verden, sind menschlich ergreifende Gestalten.
Auch der dritte und zehnte Dialog verdienen den Vorwurf
unsittlich“ nicht. Im letzten Dialog wird, wie in den
beiden ersten Szenen, ein Bild sozialen und menschlichen
lends entrollt.
Anders steht es um die Dialoge vier bis neun. Sie sind
schlüpfrig, wollen es mit Absicht sein, „witzeln“, um ein Wort
Emmermanns zu gebrauchen, „um den Kehricht herum"
Trotzdem könnte ich mich nicht dazu ent¬
chließen, des halb ein Verbot des Bühnen¬
werkes zu beantragen. Schon wegen der vier früher
erwähnten Dialoge nicht. Aber die unleugbar schlüpfrigen sechs
übrigen Dialoge sind wenigstens mit Geist und Laune vol¬
getragen, so daß man sie, bedenkt man, was alles auf unseren
Bühnen in dieser Ark versucht wird, vom Standpunkt einer
weitherzigen Auffassung immerhin noch erträglich finden kann.
Doch stimme ich mit meinen Herren Kollegen im Zensurbeirat
darin überein, daß bei der Aufführung die Regie mit ganz
besonderem Feingesühl vorgehen und alles ver¬
meiden müßte, was geeignet wäre, das Anstößige des Gegen¬
tandes etwa noch zu unterstreichen.
Die Bedi. gung, daß zur Aufführung nur Erwachsene
Zutritt haben dürfen (siehe das Gutachten des Herrn Statt¬
halters Bicepräsident Tiis), würde ich nicht stellen. An sich wäre
diese Bedingung gewiß der Erörterung wert. Hat doch Goethe
Eckermann gegenüber als das größte Uebel des modernen
Theaters bezeichnet, daß Frauen und unreife Personen Zuiritt
zu ihm haben! Aber da dieser Zutritt nun einmal gestattet
ist, wie teill man ihn im einzelnen Falle verbieten? Soll
etwa die Polizei Besucher, die sie für unreif hält, aus dem
Theater entfernen?
Ich bin also für die Aufführungsbewilligung,
jedoch mit dem von mir gemachten Vorbehalte größter Zurück¬
haltung bei Vorführung der Bühnenbilder.
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