II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 673

11.
Reigen
bex 18/1
hiose & Selue.
Bureau für Zeitungsaussehmite
Verin K0. 43, Oeorgentrehplan 21
1 Bersen-Conn.
Zeitung:
Oet:
Datum: 4 UEL192
Cheater, Wlusik und Kunst
Reigen.
Kleines Schauspielhaus.
Das Kleine Schauspielhaus gehört der Hochschule
für Musik Die Hochschule für Musik untersteht dem
Kültusministerium. An der Spitze des Kultusmini¬
steriums steht der bekannte Freidenker Konrad
Haenisch. Ueber dem bekannten Freidenker Konrad
Haenisch stehen die Februarwahlen. Und die Fe¬
bruarwahlen werden mit seinem Ministerium Schluf
machen? Keineswegs. Schon fand Herr Haenisch
den Beifall eines deutschnationalen Abgeordneten, der
von diesem Beifall Unannehmlichkeiten hatte.
Herr
Haenisch nimmt diesen Unannehmlichkeiten
den
Grund, indem er die Sittlichkeit schützt und Schnitzlers
„Reigen“ verbietet.
Oder sollte Herr Haenisch nur der Angeführte
sein, und es sich —
im Hinblick auf die kommenden
Zeiten — um einen Vorstoß der Geheimräte handeln?
Sollte einem sozialdemokratischen Minister im letzten
Augenblick doch noch die Scham überkommen, sein
Minsterium zu etwas hergegeben zu haben was kein
kaiserliches Ministerium jemals gewagt hätte? Näm¬
lich die Direktoren eines Theaters mit — sechs Wochen
Haft zu bedrohen, wenn sie eine Aufführung gegen
die einstweilige Verfügung unternehmen sollten? Im
leinen Schauspielhaus dursen —
laut Mietsvertrag
keine Stucke gegeben werden, die in politischer, reli¬
göser und sittlicher Hinsicht Anstoß erregen. I
Erotik unsittlich? Dann müßte das Kultusmini¬
X
sterium sofort die Hochschule für Musik schließen.
Denn Musik ist die erotischste aller Künste.
„Reigen“ ist eine der reizendsten Dichtungen
Schnitzlers weil seine Dialoge aus diesem erotischen
Nervengefühl geboren sind, das nur noch um einen
Grad sublimiert zu werden brauchte um Klang, um
Ton zu werden. „Reigen“ ist auch eine der rein¬
ichsten Dichtungen Schnitzlers, weil seine sinnlichen
Schwebungen,
seine erotischen Frivolitäten und
Melancholien nicht feuilletonistisch umschmust, nicht
mit Tiefsinn drapiert, nicht unter Anspielungen ver¬
steckt werden, weil sie sich darbieten als das was sie
sind: graziöse Liebesspiele ohne geistige Verfälschung.
Die Nachdenklichkeit ist das erotische Erlebnis selbst.
Seine Ausstrahlungen, seine Schwingungen, seine
Spannungen, seine Ermattungen.
„Reigen“ ist Wien, ist der betäubende, lockende,
verführerische Schimmer dieser herrlichen, fauligen,
inkenden verfunkenen Stadt. „Anatol“ ist heute
kaum noch zu ertragen, weil Schnitzler hier eine
geistige Distanz zu den Abenteuern seines Charmeurs¬
vorspielt, die er nicht hat. Daß Schitzler
im „Anatol“ charmiert, verniedlicht, kokeitiert, irom¬
siert, tändelt, und darauf hinweist, daß er tändelt,
macht diese Einakterreihe zu einem Abbilde auch
jenes „geistigen“ Wiens, dessen verlogene Süßlich¬
keit aufreizt. „Reigen“ aber ist das Spiel, die Leich¬
tigkeit selbst. Wenn mit der Dirne über den Sol¬
daten und das Stubenmädchen und den jungen Herrn
und die junge Frau und den Ehemann und das
üße Mädel und den Dichter und die Schauspielerin
und den Grafen alle verknüpft sind so ist dieser
Reigen von einer schwebenden Freiheit, die künst¬
lerisch entzückt und deshalb menschlich erheitert.
Viele Dramen von Schnitzler sind veraltet,
weil sie Probleme stellten und die Probleme
entweder zu leicht waren oder von der Zeit zer¬
fressen wurden. „Reigen“ ist unproblematisch und
wird in der deutschen erotischen Literatur, die arm
ist, bleiben. Es ist sicher, daß ein neuer Dichter ein
Stück, das ollein den Geschlechtsakt umspielt, heute
nicht schreiben würde. Ebenso sicher aber ist, daß
wenn er es schriebe, er es plumper schreiben würde.
Gertrud Eysoldt hatte recht, als sie sich vor