II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 674

11. Reigen
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Sollte einem sozialdemokratischen Minister im letzten
Augenblick doch noch die Scham überkommen, sein
Minsterium zu etwas hergegeben zu haben, was kein
kaiserliches Ministerium jemals gewagt hätte? Näm¬
lich die Direktoren eines Theaters mit — sechs Wochen
Haft zu bedrohen, wenn sie eine Aufführung gegen
die einstweilige Verfügung unternehmen sollten? Im
Kleinen Schauspielhaus dursen —
laut Mietsvertrag
keine Stucke gegeben werden, die in politischer, reli¬
giöser und sittlicher Hinsicht Anstoß erregen. Ist
Erotik unsittlich? Dann müßte das Kultusmini¬
terium sofort die Hochschule für Musik schließen.
Denn Musik ist die erotischste aller Künste.
„Reigen“ ist eine der reizendsten Dichtungen
Schnitzlers, weil seine Dialoge aus diesem erolischen
Nervengefühl geboren sind, das nur noch um einen
Grad sublimiert zu werden brauchte um Klang, um
Ton zu werden. „Reigen“ ist auch eine der rein¬
lichsten Dichtungen Schnitzlers, eil seine sinnlichen
Schwebungen, seine erotischen Frivolitäten und
Melancholien nicht feuilletonistisch umschmust, nicht
nit Tiefsinn drapiert, nicht unter Anspielungen ver¬
steckt werden, weil sie sich darbieten als das was sie
sind: graziöse Liebesspiele ohne geistige Verfälschung.
Die Nachdenklichkeit ist das erotische Erlebnis selbst.
Seine Ausstrahlungen, seine Schwingungen, seine
Spannungen, seine Ermattungen.
„Reigen“ ist Wien, ist der betäubende, lockende,
verführerische Schimmer dieser herrlichen, fauligen,
sinkenden, verfunkenen Stadt. „Anatol“ ist heute
kaum noch zu ertragen, weil Schnitzler hier eine
geistige Distanz zu den Abenteuern seines Charmeurs
vorspielt, die er nicht hat. Daß Schnitzler
im „Anatol“ charmiert, verniedlicht, kokemert, ironi¬
siert, tändelt, und darauf hinweist, daß er tändelt,
macht diese Cinakterreihe zu einem Abbilde auch
jenes „geistigen“ Wiens, dessen verlogene Süßlich¬
keit aufreizt. „Reigen“ aber ist das Spiel, die Leich¬
tigkeit selbst. Wenn mit der Dirne über den Sol¬
daten und das Stubenmädchen und den jungen Herrn
und die junge Frau und den Ehemann und das
süße Mädel und den Dichter und die Schauspielerin
und den Grafen alle verknüpft sind, so ist dieser
Reigen von einer schwebenden Freiheit, die künst¬
lerisch entzückt und deshalb menschlich erheitert.
Viele Dramen von Schnitzler sind veraltet,
weil sie Probleme stellten und die Probleme
entweder zu leicht waren oder von der Zeit zer¬
ressen wurden. „Reigen“ ist unproblematisch und
wird in der deutschen erotischen Literatur, die arm
ist, bleiben. Es ist sicher, daß ein neuer Dichter ein
Stück, das allein den Geschlechtsakt umspielt, heute
nicht schreiben würde. Ebenso sicher aber ist, daß,
wenn er es schriebe, er es plumper schreiben würde.
Gertrud Eysoldt hatte recht, als sie sich vor
der Vorstellung hinter die Dichtung und die Dar¬
stellung stellte. Daß sie in ihrer Rede den Kampf
gegen das Kultusministerium auf sich nahm. (Das,
wie sie sagte, schon längst ein Interesse daran habe,
ihre Direktion an die Luft zu setzen, weil es den
Theatersaal für seine eigenen Zwecke benutzen wolle.
Sie ließ sich durch die Aufführung bestätigen. Diese
zerfiel in zwei Hälften. In eine langweilige (die die
Sittlichkeit nicht beunruhigte) und eine amusante (die
die Sittlichkeit nicht beunruhigte.) Die Schau¬
spielkunst pflegt sich in erotischen Stücken auf die
Seite der Männer zu schlagen, weil die Frau die
erotische Phantasie direkter und auf der Bühne auch
ohne Uebersetzung in Kunst auszudrücken vermag.
Hier wurde sie mit Takt und Laune (allerdings nicht
immer mit Talent gegeben). Und wo schauspiele¬
rische Routine, wie bei Poldi Müller, mitsprach,
wvurde sie leicht kitschig.
Wenn man bedenkt, mit welch knalliger Auf¬
dringlichkeit in der Residenztheater=Darstellung von
Limburg eine
Olga
Sudermanns „Raschhoffs“.
Dirne spielte, erscheint die Diskretion des Kleinen
Schauspielhauses vorbildlich. Die Schauspielkunst blieb
bei Kurt Goetz, der ironisch und elegisch den jungen
Herrn spielte, bei Robert Forster=Larrin¬
naga, der den Grafen mit persönlicher Gepflegtheit
Karl
gab und bei Karl Etlinger als Dichter.
Etlinger ist ein improvisierender Schauspieler. Er
ist der letzte aus der langen Reihe der wiener Volks¬
komiker: saftig, verspielt und schrullig. Er ist ein
aber mit Schnitzler
Original, eine Persönlichkeit —
kam er nicht immer zusammen. Etlinger ist kein
Schauspieler für Dialoge. Er muß mimisch phanta¬
sieren können. Dann leuchtet er auf, dann steht er im
Kontakt mit dem Publikum.
Die Dekorationen waren von Ernst Stern. In
der Verspieltheit kam er zu seinem Recht.
Herbert Ihering.