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11. Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin HO. 43, Georgenkirchplats 21
27
Zeitung:
Ort:
Datum:
Theater und Musik.
„Reigen“ von Arthur Schnitzler.
Erstaufführung im Kleinen Schauspielhaus.
Wessen literarische Ansprüche lediglich auf niedrigste Sinnen¬
lust gerichtet sind, dem werden diese zehn Dialoge des Wiener
Schriftstellers, die als Buch vor Jahren verboten wurden, nun
aber, trotz eines gerichtlichen Einspruchs, zur Aufführung kamen,
viel Freude bereiten. Die kleinen, mit leichter Hand geschickt
hingeworfenen, gut beobachteten Szenen haben alle dasselbe Ziel,
wollen die Menschen, vom Soldaten und der Dienstmagd bis in
hohe Gesellschaftskreise in ihren sexuellen Begierden zeigen, die
zu oft nur das Wort Liebe mißbrauchen. Daß Schnitzler hinter
diesen geschilderten Empfindungen eine mitleidsvolle Tragik
durchblicken läßt, dürfte unserem Theaterpublikum kaum zum Be¬
wußtsein kommen. Man nahm auch bei dieser Erstaufführung
die kleinen erotischen Duette als das, was sie den begehrlichen
Sinnen erscheinen, und amüsierte sich bei den gewagtesten Situa¬
tionen nach Herzenslust. Das mag vom Dichter nicht beabsichtigt
sein, aber er kann sich ja sein Publikum nicht aussuchen, und so
wird dieser „Reigen“ wohl nur bei Leuten, aus der „Welt, in
der man sich nicht langweilt“, volles Entgegenkommen finden. Ein
Theater aber, das einer ernsthaften, läuternden und erhebenden
Kunstrichtung folgt, wird keine Ehre darin finden, vor solchem
Publikum zu spielen und deshalb diese Skizzen, unbekümmert um
ihren literarischen Wert, anderen überlassen.
Mit großer Sorgfalt waren die zehn Bilder unter Spiel¬
leitung von Hubort Reusch in einen, dem Inhalt angepaßten
Nahmen gestellt und von den Darstellern, unter denen die Damen
Pergan, Müllor, Mohr, die Herren Götz, Schwan¬
neke, Etlinger, Forster=Larringa (der auch eine
gefällige verbindende Musik dem Spiel beigegeben hatte) sich be¬
sonders auszeichneten, dem Leben nächempfunden.
sb.
—%
Mumiierter Wiener IAuatlat
24. Dezember 1920 Seite 5
Theaterzeitung.
chnihlers=Reigen“ in Berlin verboten.
Die Uraufführung hat trotz des Ver¬
botes stattgefunden.
Berlin, 23. Dezember. (Privat=Devesche)
Nach einer heute vormittags ergangenen einstweiligen
gerichtlichen Verfügung ist die Uraufführung der
Schnitzlerschen Komödie „Reigen“, die heute abends im
Kleinen Schauspielhaus stattfinden sollte, verboten
worden. Die Verfügung ist auf Antrag des Direk¬
toriums der Hochschule für Musik, die die Vermieterin
des Kleinen Schauspielhauses ist, erfolgt. Nach dem
Mietvertrag dürfen Stücke, die in sittlicher oder
politischer Richtung Anstoß erregen könnten, nicht
gegeben werden. Der Vertreter der klägerischen Partei
hatte bei Gericht ein Exemplar des Stückes eingereicht,
auf Grund dessen das Gericht den „Reigen“ als
unzüchtig erklärte und die Aufführung untersagte. Der
„Reigen soll schon früher einmal vom Landgericht I.
als unsittlich erklärt worden sein.
Die Direktion des Kleinen Schauspielhauses
hat jedoch trotz der einstweiligen Verfügung das Stück
heute abends aufgeführt.
Vor Beginn der Vorstellung trat die Direktorin
des Theaters, Frau Eysoldt, vor den Vorhang und
teilte mit, daß sie und ihr Mitdirektor trotz der an¬
gedrohten sechswöchentlichen Haft
ich entschlossen hatten, das Stück zur Auf¬
führung zu bringen, weil sie sich nicht denken können,
daß die Aufführung eines bekannten Kunstwerkes eines
berühmten Dichters in Berlin nach Aufhebung der
Zensur verboten werden könnte. Sie deutete an, daß der
Versuch, die Aufführung zu hindern, andere Motive als
künstlerische habe. Das Kultusministerium,
dem das Haus gehöre, wolle schon seit längerer Zeit
das Theater daraus vertreiben, um
Raum für andere Zwecke zu gewinnen und habe jetzt
den Konflikt vom Zaun gebrochen, um diese Absicht
auf diese Weise durchzuführen. Es sei einzig dastebend,
daß man ein Theaterstück verbieten
wolle, ohne auch nur eine Probe
gesehen zu haben, lediglich auf Grund des
Buches. Diese Rede wurde vom Publikum mit
minutenlangem Beifall ausgenommen.
Die Aufführung selbst war interessant
und amüsant. Die Inszenierung folgte genau
dem Schnitzlerischen Dialog, der durch die künstlerisch
gute Aufführung noch an Bedeutung gewann. Das
Stück wurde mit lebhaftem Beifall aufgenommen,=Von
„Wien
die aus
wurden
8
den Darstellern
geholte Poldi Müller und Louis Reiph den
Intentionen am meisten gerecht. Zum Schlusse dankte
der Direktor für die überaus gefällige Aufnahme des
Werkes. Ein Widerspruch machte sich nirgends geltend.
11. Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin HO. 43, Georgenkirchplats 21
27
Zeitung:
Ort:
Datum:
Theater und Musik.
„Reigen“ von Arthur Schnitzler.
Erstaufführung im Kleinen Schauspielhaus.
Wessen literarische Ansprüche lediglich auf niedrigste Sinnen¬
lust gerichtet sind, dem werden diese zehn Dialoge des Wiener
Schriftstellers, die als Buch vor Jahren verboten wurden, nun
aber, trotz eines gerichtlichen Einspruchs, zur Aufführung kamen,
viel Freude bereiten. Die kleinen, mit leichter Hand geschickt
hingeworfenen, gut beobachteten Szenen haben alle dasselbe Ziel,
wollen die Menschen, vom Soldaten und der Dienstmagd bis in
hohe Gesellschaftskreise in ihren sexuellen Begierden zeigen, die
zu oft nur das Wort Liebe mißbrauchen. Daß Schnitzler hinter
diesen geschilderten Empfindungen eine mitleidsvolle Tragik
durchblicken läßt, dürfte unserem Theaterpublikum kaum zum Be¬
wußtsein kommen. Man nahm auch bei dieser Erstaufführung
die kleinen erotischen Duette als das, was sie den begehrlichen
Sinnen erscheinen, und amüsierte sich bei den gewagtesten Situa¬
tionen nach Herzenslust. Das mag vom Dichter nicht beabsichtigt
sein, aber er kann sich ja sein Publikum nicht aussuchen, und so
wird dieser „Reigen“ wohl nur bei Leuten, aus der „Welt, in
der man sich nicht langweilt“, volles Entgegenkommen finden. Ein
Theater aber, das einer ernsthaften, läuternden und erhebenden
Kunstrichtung folgt, wird keine Ehre darin finden, vor solchem
Publikum zu spielen und deshalb diese Skizzen, unbekümmert um
ihren literarischen Wert, anderen überlassen.
Mit großer Sorgfalt waren die zehn Bilder unter Spiel¬
leitung von Hubort Reusch in einen, dem Inhalt angepaßten
Nahmen gestellt und von den Darstellern, unter denen die Damen
Pergan, Müllor, Mohr, die Herren Götz, Schwan¬
neke, Etlinger, Forster=Larringa (der auch eine
gefällige verbindende Musik dem Spiel beigegeben hatte) sich be¬
sonders auszeichneten, dem Leben nächempfunden.
sb.
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Mumiierter Wiener IAuatlat
24. Dezember 1920 Seite 5
Theaterzeitung.
chnihlers=Reigen“ in Berlin verboten.
Die Uraufführung hat trotz des Ver¬
botes stattgefunden.
Berlin, 23. Dezember. (Privat=Devesche)
Nach einer heute vormittags ergangenen einstweiligen
gerichtlichen Verfügung ist die Uraufführung der
Schnitzlerschen Komödie „Reigen“, die heute abends im
Kleinen Schauspielhaus stattfinden sollte, verboten
worden. Die Verfügung ist auf Antrag des Direk¬
toriums der Hochschule für Musik, die die Vermieterin
des Kleinen Schauspielhauses ist, erfolgt. Nach dem
Mietvertrag dürfen Stücke, die in sittlicher oder
politischer Richtung Anstoß erregen könnten, nicht
gegeben werden. Der Vertreter der klägerischen Partei
hatte bei Gericht ein Exemplar des Stückes eingereicht,
auf Grund dessen das Gericht den „Reigen“ als
unzüchtig erklärte und die Aufführung untersagte. Der
„Reigen soll schon früher einmal vom Landgericht I.
als unsittlich erklärt worden sein.
Die Direktion des Kleinen Schauspielhauses
hat jedoch trotz der einstweiligen Verfügung das Stück
heute abends aufgeführt.
Vor Beginn der Vorstellung trat die Direktorin
des Theaters, Frau Eysoldt, vor den Vorhang und
teilte mit, daß sie und ihr Mitdirektor trotz der an¬
gedrohten sechswöchentlichen Haft
ich entschlossen hatten, das Stück zur Auf¬
führung zu bringen, weil sie sich nicht denken können,
daß die Aufführung eines bekannten Kunstwerkes eines
berühmten Dichters in Berlin nach Aufhebung der
Zensur verboten werden könnte. Sie deutete an, daß der
Versuch, die Aufführung zu hindern, andere Motive als
künstlerische habe. Das Kultusministerium,
dem das Haus gehöre, wolle schon seit längerer Zeit
das Theater daraus vertreiben, um
Raum für andere Zwecke zu gewinnen und habe jetzt
den Konflikt vom Zaun gebrochen, um diese Absicht
auf diese Weise durchzuführen. Es sei einzig dastebend,
daß man ein Theaterstück verbieten
wolle, ohne auch nur eine Probe
gesehen zu haben, lediglich auf Grund des
Buches. Diese Rede wurde vom Publikum mit
minutenlangem Beifall ausgenommen.
Die Aufführung selbst war interessant
und amüsant. Die Inszenierung folgte genau
dem Schnitzlerischen Dialog, der durch die künstlerisch
gute Aufführung noch an Bedeutung gewann. Das
Stück wurde mit lebhaftem Beifall aufgenommen,=Von
„Wien
die aus
wurden
8
den Darstellern
geholte Poldi Müller und Louis Reiph den
Intentionen am meisten gerecht. Zum Schlusse dankte
der Direktor für die überaus gefällige Aufnahme des
Werkes. Ein Widerspruch machte sich nirgends geltend.