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11. Reigen
Seite 8
24. Dezember 1920
Neues Wiener Journal
Eine Berliner Theatersensation.
Premiere von Schnitzlers „Reigen“ trotz gerichtlichen Verbotes.
Berlin, 23. Dezember. (Privattelegramm des für Unterrichtszwecke freimachen wolle. Man nehme die Auf¬
führung des „Reigen“ lediglich zum Vorwand, um das Kleine
„Neuen Wiener Jouruals“.) Artur Schnitzlers
Schauspielhaus aus seinem Heim zu vertreiben. Schließlich erklärte
„Reigen“ hat heute im Kleinen Schauspielhaus, das zum
Frau Eysoldt, daß sie und ihr Mitdirektor die angedrohte
Reinhardt=Konzern gehört, dessen Direktion aber Frau Gertrude
Haftstrafe auf sich nehmen wollen, um die
Eysoldt und Maximilian Sladek führen, die Urauf¬
Aufführung trotz des Verbotes zu ermöglichen.
führung erlebt — einem gerichtlichen Verbot zu Trotz,
Die Ansprache der Frau Eysoldt wurde vom Publikum mit
das zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung der Direktion
Zurufen begleitet, die sich gegen das Verbot richteten, und als
zugestellt worden war. Es gibt keine Theaterzensur mehr in Deutsch¬
sie geendet hatte, bekundete das ganze Haus durch demon¬
land, aber die Kreise, die eine Aufführung des „Reigen“ verhindern
strativen Beifall, daß es sich auf Seite der Direktion
wollten, haben doch einen Weg gefunden, um das gerichtliche
stelle und gleichfalls gegen das gerichtliche Verbot protestiere. Es
Verbot zu erreichen. Der Saal, in dem das Kleine Schauspielhaus
bleibt abzuwarten, ob die augedrohte Verhaftung der beiden
seine Vorstellungen hält, gehört der Hochschule für Musik. Die
Direktoren des Kleinen Schauspielhauses morgen auch zur Tat¬
Leitung der Hochschule wurde nun veranlaßt, auf Unterlassung der
sache werden oder ob die Staatsgewalt sich vor dem Urteil des
Vorstellung zu klagen, mit Berufung auf den Pachtvertrag, in
Publikums beugen wird.
dem vereinbart ist, daß keine Stücke zur Aufführung gelangen
Frau Eysoldt hat in einem Punkte recht behalten. Die
dürsen, die das politische, sittliche oder religiöse Empfinden ver¬
Szenen, die sich zu einem Ring schließen, wirken in der Auf¬
letzen könnten. Schnitzlers „Reigen“ aber, so wurde in dem An¬
führung des Kleinen Schauspielhauses sicherlich nicht unzüchtig.
Das
trag der Hochschule für Musik ausgeführt, sei „unzüchtig“.
Eine seine, diskrete Regie nimmt ihr alles Bedenkliche, trotzdem
Landgericht III hat auch den Direkioren Eysoldt und Sladek unter
nicht ein Wort aus dem Buche gestrichen wurde. Die Dialoge
Androhung einer Haftstrafe von sechs
folgen einander auf der Bühne ohne Pausen. Musik hinter der
Wocheu aufgetragen, die Aufführung zu unterlassen.
Szene leitet von einem zum anderen über, begleitet stellenweise auch
Die Tatsache war schon durch die heutigen Mittagzeitungen
das gesprochene Wort. Was in dem Buch durch eine Reihe von Strichen
bekannt geworden. Die Direktion des Kleinen Schauspielhauses
angedeutet ist, wird in der ersten Szeue, der zwischen Dirne und
erklärte jedoch, daß sie sich an das Verbot nicht kehre und das
Soldaten durch das Verschwinden hinter einen Stadtbahnbogen,
Stück zur Aufführung bringen werde. Die Behörden ihrerseits
über den gerabe ein Zug donnert, in der zweiten durch ein Ver¬
kündigten an, daß die Vorstellung durch Polizeianfgebot verhindert
schwinden hinter den Kulissen markiert, in den übrigen ach
werden würde.
Szeuen aber durch ein rasches Fallen des Vorhanges, der sich nach
Berkin hatte nun wieder seine „Affäre“ und die Frage, ob
drei Sekunden wieder hebt.
der „Reigen“ am Abend gespielt werden würde oder nicht, be¬
Die Entkleidungsszenen sind sehr bezent arrangiert und mis¬
schäftigte ganz Berlin. Schon eine Viertelstunde vor Beginn der
unier, so findet man, unterstreicht die Regie den Wunsch, in
Vorstellung war das ausverkaufte Haus vollbesetzt und ein Polizei¬
ihren Absichten nicht mißverstanden zu werden, allzu deuticch.
aufgebot war nicht zu bemerken.
Nein, man kann wirklich nicht sagen, daß diese Aufführung
Eine Ansprache Gertrud Eysoldts.
des „Reigen“, das „fittliche Empfinden“ eines normalen Menschen
verletzen würde. Trotzdem hätte man gewünscht, daß sie unter¬
Bevor die Vorstellung begann, erschien Frau Eysoldt
blieben wäre — aus künstlerischen Gründen. Diese Dialoge,
und Be¬
vor dem Vorhang und wandte sich mit einer Ansprache
die ja auch vom Dichter von vornherein für das Buch,
Menschen
schwerde an die „kunst= und gerechtigkeitsliebenden“
nicht für die Bühne geschrieben worden sind, verlieren,
im Saal. Sie machte von dem Verbot unter Androhung der
vorgesprochen statt gelesen, im Rampenlicht viel von ihrem feinen
Haftstrafe Mitteilung und protestierte dagegen auch im Namen
Stimmungsgehalt. Nur eine ganz erlesene Darstellung hätte
unsittlich bezeichnet
Schnitzlers, dessen Stück als
diese Nachteile wettmachen können. Die aber stand im Kleinen
habe man
auch „Die
werde. In diesem Saal
Schauspielhaus nicht für alle Rollen zur Verfügung. Ausgenommen
Büchse der Pandora“ aufgeführt, Wedekinds bestes Werk,
das „prächtige süße Mädl“ der Poldi Müller, des Soldaten
der Erotik geboren ist wie Schnitzlers
das aus
in der Verkörperung Louis Ralphs und des jungen Herrn,
„Reigen“. Man könne nicht sagen, daß Wedekinds Werk auf der
den Kurt Götz gab, war die Darstellung recht mittelmäßig.
Bühne unzüchtig gewirkt habe und man hätte eine Aufführung
Besonders versagten Frau Blauche Dergan als Schau¬
von Schnitzlers „Reigen“ abwarten müssen, ehe man darüber urteile,
spielerin, Kurt Ettlinger als Dichter und Robert
ob die Aufführung dieser Szenen unsittlich wirke oder nicht. Das
Förster als Graf. Sie fanden allesamt nicht den rechten
Theater habe seine eigenen Bedingungen
Ton. Nach der Vorstellung erschten Direktor Max Sladek
und könne nur aus dem Theater verstanden werden.
wieder vor der Rampe, um im Namen des Dichters für die
Nicht aus dem Buch dürfe man über Schnitzlers „Reigen
freundliche Aufnahme zu danken, und auch Frau Eysoldt sprach
urteilen, sondern nach der Vorstellung. Die Direktion habe das
einen kurzen Epilog, in dem sie dem Publikum für die würdige
Gericht eingeladen, einer Probe des Stückes beizu¬
Aufnahme der Vorstellung dankte und die Hoffnung aussprach,
wohnen. Die Einladung sei aber abgelehnt worden. Frau Eysoldt
daß die Vorstellung der leisen Schmerzlichkeit der Schnitzlerschen
bezeichnet als den wirklichen Beweggrund des Einschreitens bei
Erotik gerecht geworden sei.
Gericht, daß man den Saal, der der Hochschule für Musik gehöre,
11. Reigen
Seite 8
24. Dezember 1920
Neues Wiener Journal
Eine Berliner Theatersensation.
Premiere von Schnitzlers „Reigen“ trotz gerichtlichen Verbotes.
Berlin, 23. Dezember. (Privattelegramm des für Unterrichtszwecke freimachen wolle. Man nehme die Auf¬
führung des „Reigen“ lediglich zum Vorwand, um das Kleine
„Neuen Wiener Jouruals“.) Artur Schnitzlers
Schauspielhaus aus seinem Heim zu vertreiben. Schließlich erklärte
„Reigen“ hat heute im Kleinen Schauspielhaus, das zum
Frau Eysoldt, daß sie und ihr Mitdirektor die angedrohte
Reinhardt=Konzern gehört, dessen Direktion aber Frau Gertrude
Haftstrafe auf sich nehmen wollen, um die
Eysoldt und Maximilian Sladek führen, die Urauf¬
Aufführung trotz des Verbotes zu ermöglichen.
führung erlebt — einem gerichtlichen Verbot zu Trotz,
Die Ansprache der Frau Eysoldt wurde vom Publikum mit
das zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung der Direktion
Zurufen begleitet, die sich gegen das Verbot richteten, und als
zugestellt worden war. Es gibt keine Theaterzensur mehr in Deutsch¬
sie geendet hatte, bekundete das ganze Haus durch demon¬
land, aber die Kreise, die eine Aufführung des „Reigen“ verhindern
strativen Beifall, daß es sich auf Seite der Direktion
wollten, haben doch einen Weg gefunden, um das gerichtliche
stelle und gleichfalls gegen das gerichtliche Verbot protestiere. Es
Verbot zu erreichen. Der Saal, in dem das Kleine Schauspielhaus
bleibt abzuwarten, ob die augedrohte Verhaftung der beiden
seine Vorstellungen hält, gehört der Hochschule für Musik. Die
Direktoren des Kleinen Schauspielhauses morgen auch zur Tat¬
Leitung der Hochschule wurde nun veranlaßt, auf Unterlassung der
sache werden oder ob die Staatsgewalt sich vor dem Urteil des
Vorstellung zu klagen, mit Berufung auf den Pachtvertrag, in
Publikums beugen wird.
dem vereinbart ist, daß keine Stücke zur Aufführung gelangen
Frau Eysoldt hat in einem Punkte recht behalten. Die
dürsen, die das politische, sittliche oder religiöse Empfinden ver¬
Szenen, die sich zu einem Ring schließen, wirken in der Auf¬
letzen könnten. Schnitzlers „Reigen“ aber, so wurde in dem An¬
führung des Kleinen Schauspielhauses sicherlich nicht unzüchtig.
Das
trag der Hochschule für Musik ausgeführt, sei „unzüchtig“.
Eine seine, diskrete Regie nimmt ihr alles Bedenkliche, trotzdem
Landgericht III hat auch den Direkioren Eysoldt und Sladek unter
nicht ein Wort aus dem Buche gestrichen wurde. Die Dialoge
Androhung einer Haftstrafe von sechs
folgen einander auf der Bühne ohne Pausen. Musik hinter der
Wocheu aufgetragen, die Aufführung zu unterlassen.
Szene leitet von einem zum anderen über, begleitet stellenweise auch
Die Tatsache war schon durch die heutigen Mittagzeitungen
das gesprochene Wort. Was in dem Buch durch eine Reihe von Strichen
bekannt geworden. Die Direktion des Kleinen Schauspielhauses
angedeutet ist, wird in der ersten Szeue, der zwischen Dirne und
erklärte jedoch, daß sie sich an das Verbot nicht kehre und das
Soldaten durch das Verschwinden hinter einen Stadtbahnbogen,
Stück zur Aufführung bringen werde. Die Behörden ihrerseits
über den gerabe ein Zug donnert, in der zweiten durch ein Ver¬
kündigten an, daß die Vorstellung durch Polizeianfgebot verhindert
schwinden hinter den Kulissen markiert, in den übrigen ach
werden würde.
Szeuen aber durch ein rasches Fallen des Vorhanges, der sich nach
Berkin hatte nun wieder seine „Affäre“ und die Frage, ob
drei Sekunden wieder hebt.
der „Reigen“ am Abend gespielt werden würde oder nicht, be¬
Die Entkleidungsszenen sind sehr bezent arrangiert und mis¬
schäftigte ganz Berlin. Schon eine Viertelstunde vor Beginn der
unier, so findet man, unterstreicht die Regie den Wunsch, in
Vorstellung war das ausverkaufte Haus vollbesetzt und ein Polizei¬
ihren Absichten nicht mißverstanden zu werden, allzu deuticch.
aufgebot war nicht zu bemerken.
Nein, man kann wirklich nicht sagen, daß diese Aufführung
Eine Ansprache Gertrud Eysoldts.
des „Reigen“, das „fittliche Empfinden“ eines normalen Menschen
verletzen würde. Trotzdem hätte man gewünscht, daß sie unter¬
Bevor die Vorstellung begann, erschien Frau Eysoldt
blieben wäre — aus künstlerischen Gründen. Diese Dialoge,
und Be¬
vor dem Vorhang und wandte sich mit einer Ansprache
die ja auch vom Dichter von vornherein für das Buch,
Menschen
schwerde an die „kunst= und gerechtigkeitsliebenden“
nicht für die Bühne geschrieben worden sind, verlieren,
im Saal. Sie machte von dem Verbot unter Androhung der
vorgesprochen statt gelesen, im Rampenlicht viel von ihrem feinen
Haftstrafe Mitteilung und protestierte dagegen auch im Namen
Stimmungsgehalt. Nur eine ganz erlesene Darstellung hätte
unsittlich bezeichnet
Schnitzlers, dessen Stück als
diese Nachteile wettmachen können. Die aber stand im Kleinen
habe man
auch „Die
werde. In diesem Saal
Schauspielhaus nicht für alle Rollen zur Verfügung. Ausgenommen
Büchse der Pandora“ aufgeführt, Wedekinds bestes Werk,
das „prächtige süße Mädl“ der Poldi Müller, des Soldaten
der Erotik geboren ist wie Schnitzlers
das aus
in der Verkörperung Louis Ralphs und des jungen Herrn,
„Reigen“. Man könne nicht sagen, daß Wedekinds Werk auf der
den Kurt Götz gab, war die Darstellung recht mittelmäßig.
Bühne unzüchtig gewirkt habe und man hätte eine Aufführung
Besonders versagten Frau Blauche Dergan als Schau¬
von Schnitzlers „Reigen“ abwarten müssen, ehe man darüber urteile,
spielerin, Kurt Ettlinger als Dichter und Robert
ob die Aufführung dieser Szenen unsittlich wirke oder nicht. Das
Förster als Graf. Sie fanden allesamt nicht den rechten
Theater habe seine eigenen Bedingungen
Ton. Nach der Vorstellung erschten Direktor Max Sladek
und könne nur aus dem Theater verstanden werden.
wieder vor der Rampe, um im Namen des Dichters für die
Nicht aus dem Buch dürfe man über Schnitzlers „Reigen
freundliche Aufnahme zu danken, und auch Frau Eysoldt sprach
urteilen, sondern nach der Vorstellung. Die Direktion habe das
einen kurzen Epilog, in dem sie dem Publikum für die würdige
Gericht eingeladen, einer Probe des Stückes beizu¬
Aufnahme der Vorstellung dankte und die Hoffnung aussprach,
wohnen. Die Einladung sei aber abgelehnt worden. Frau Eysoldt
daß die Vorstellung der leisen Schmerzlichkeit der Schnitzlerschen
bezeichnet als den wirklichen Beweggrund des Einschreitens bei
Erotik gerecht geworden sei.
Gericht, daß man den Saal, der der Hochschule für Musik gehöre,