II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 706

11.
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Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 45, Georgenkirchplatz 21
Zeitung: Deutsche Warte
Berlin
Ort:

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Patum:
OLEISZG
Theater und Musik
Der verbotene „Reigen“
Das
Kleine Schauspielhuusum Arthur
Schnitlers willen eine Widerspenstigkeit gegen die Staatsgewalt
gewagt
Es hat der Kritik und einem fast ganz gefüllten Parkett
den „dsügen“ vorgeführt den die Gerichtsverfügung als unzüchtig
verbot. Frau Direktorin Eysoldt betonte im Vor= und Nach¬
spruch ihre reinen Absichten und verteidigte die Gesinnung des
Dichters. Bei sechs Wochen Gefängnis hatte der Hausherr die Auf¬
führung untersagt. Drei Stunden vor Beginn der Vorstellung.
Hausherr ist der preußische Kultusminister. Ein Zensurrecht darf
er zwar nicht ausüben, aber für die Reinlichkeit im staatlichen Hause
der Musikhochschule darf er sorgen. Trotzdem wurde gespielt
Rosafarbige Flordraperien um den Bühnenausschnitt und zärt¬
liche Musik bereiteten die Stimmung vor. Und nun hörte man die
„zehn Dialoge die alle in verschiedenen Räumen, von verschiedenen
Pärchen gesprochen werden und sich alle um den einen bestimmten
Punkt zu drehen haben. Man sah etliche Ruhebetten auf der Bühne
aufgestellt und etliche junge Damen nit Herren verschiedenen Standes
bei zartlicher Tag= und Nachtunterhaltung. Einen Kettenhandel der
Liebe einen Schlafzimmerstafettenlauf. Die Dirne kommt zum
Soldaten, der Soldat zum Stubenmädchen, das Stubenmädchen zum
jungen Herrn, der junge Herr zur jungen Frau die junge Frau zu
ihrem Gatten, und so weiter. Ueber süßes Mädel, Dichter, Schau¬
spielerin, Graf führt der soziale Reigen wieder zur Dirne zurück.
Daß dieses galante Spiel gerade sehr sinnenaufveitschend wäre, wird
auch der stärkste Mann nicht behaupten können. Es ist wie Schnitzlers
Anatol in eine Wolke von Melancholie und müder Nachdenklichkeit
eingehüllt. Was im Buch leicht, schwebend, wie der Atem einer ver¬
zärtelten, übersatten Kulturfäulnis erscheint, ist in der vergröberten
Sinnfälligkeit fade und matt. Eine bescheidene Studie vor¬
kriegerischer Wiener Sitten.
Ist das ein unsittliches Stück? Kaum. Im Thema ist es
deutlich, aber kaum schlimmer als vieles, was Abend für Abend
sehr
In
auf Operetten= und Amüsierbühnen ungehindert hervortritt.
der
der Form ist es nicht zu vergleichen mit jenen Schmutzwerken
Geschäftsspekulation, die auf die niederen Masseninstinkte ausgehen.
Es ist das Werk eines Dichters ron Weltruf. Sittenstudie in
galanter Form. Die Frage ist nur: gehören so freie erolische Dinge
auf die Schaubühne? Frau Eysoldt mein: „Ja!“ Schnitzler selbst
hielt sein Stück ein Vierteljahrhundert von jedem Theater fern. Wer
Gesundung und ethische Säuberung will, wird erklären: Fort mit
allen diesen Kitzlichkeiten, mit den sexuellen Modestoffen, die im
Scheinwerfer der Rampen wirklich nichts anderes bewirken als
Schönheitstänze in Animierkneipen. Kunst oder Unkunst? Wer
raat danach von dem Amüsierpöbel, der dreihundertmal in die
üchse der Pandora rennt? Glaubt Frau Eysoldt wirklich, daß
der Kurfürstendamm nur rein ästhetische Sinne besitzt? Gibt es
nicht Dramen genug, die mindestens ebenso wertvoll und weniger
zweideutig sind:
Den Zensor rufen wir nicht. Auch von sittlichem Niedergang
braucht man nicht gleich zu sprechen. Etwas mehr Reinlichkeit aber
ist dringend vonnöten in unseren „moralischen Anstalten: Mit den
erotischen Reigentänzen mag endlich Schluß gemacht werden. J. L.
Scabl. f.
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Theater und Musik
Der verbotene „Reigen“
Das Kleine Schauspielhaus „hat um Arthur
Schnitzlers willen eine Widerspenstigkeit gegen die Staatsgewalt
genüßt. Es hak der Kritik und einem fasts gaiz gefüllten Parkett
den „Reigen“ vorgeführt, den die Gerichtsderfügung als unzüchtig
verbot. Frau Direktorin Eysoldt betonte i Vor= und Nach¬
spruch ihre reinen Absichten und verteidigte die Gesinnung des
Dichters. Bei sechs Wochen Gefängnis hatte det Hausherr die Auf¬
führung untersagt. Drei Stunden vor Beginn der Vorstellung
Hausherr ist der preußische Kultusminister. Ein Zensurrecht darf.
er zwar nicht ausüben, aber für die Reinlichkeit im staatlichen Hause
der Musikhochschule darf er sorgen. Trotzdem wurde gespielt.
Rosafarbige Flordraperien um den Bühnenausschnitt und zärt¬
liche Musik bereiteten die Stimmung vor. Und nun hörte man die
zehn Dialoge“, die alle in verschiedenen Räumen, von verschiedenen
Pärchen gesprochen werden und sich alle um den einen bestimmten
Punkt zu drehen haben. Man sah etliche Ruhebetten auf der Bühne
aufgestellt und etliche junge Damen mit Herren verschiedenen Standes
bei zartlicher Tag= und Nachtunterhaltung. Einen Kettenhandel der
Liebe einen Schlafzimmerstafettenlauf. Die Dirne kommt zum
Soldaten, der Soldat zum Stubenmädchen, das Stubenmädchen zum
jungen Herrn, der junge Herr zur jungen Frau, die junge Frau zu
ihrem Gatten, und so weiter. Ueber sußes Mädel, Dichter, Schau¬
spielerin, Graf führt der soziale Reigen wieder zur Dirne zurück.
Daß dieses galante Spiel gerade sehr sinnenaufpeitschend wäre, wird
auch der stärkste Mann nicht behaupten können. Es ist wie Schnitzler
Anatol in eine Wolke von Melancholie und müder Nachdenklichkeit
eingehüllt. Was im Buch leicht, schwebend, wie der Atem einer ver¬
zärtelten, übersatten Kulturfäulnis erscheint, ist in der vergröberten
Sinnfälligkeit fade und matt. Eine bescheidene Studte vor¬
kriegerischer Wiener Sitten.
Ist das ein unsittliches Stück? Kaum. Im. Thema ist es
sehr deutlich, aber kaum schlimmer als vieles, was Abend für Abend
auf Operetten= und Amüsierbühnen ungehindert hervortritt.
In
der Form ist es nicht zu vergleichen mit jenen Schmutzwerken der
Geschäftsspekulation, die auf die niederen Masseninstinkte ausgehen.
Es ist das Werk eines Dichters ron Weltruf. Sittenstudie in
galanter Form. Die Frage ist nur: gehören so freie erotische Dinge
auf die Schaubühne? Frau Eysoldt mein: „Ja!“ Schnitzler selbst
hielt sein Stück ein Vierteljahrhundert von jedem Theater fern. Wer.
Gesundung und ethische Säuberung will, wird erklären: Fort mi
allen diesen Kitzlichkeiten, mit den sexuellen Modestoffen, die im
Scheinwerfer der Rampen wirklich nichts anderes bewirken als
Schönheitstänze in Animierkneipen. Kunst oder Unkunst? Wer
fragt danach von dem Amüsierpöbel, der dreihundertmal in die
üchse der Pandora“ rennt? Glaubt Frau Eysoldt wirklich daß
der Kurfürstendamm nur rein ästhetische Sinne besitzt? Gibt es
nicht Dramen genug, die mindestens ebenso wertvoll und weniger
zweideutig sind?
Den Zensor rufen wir nicht. Auch von sittlichem Niedergang
braucht man nicht gleich zu sprechen. Etwas mehr Reinlichkeit aber
ist dringend vonnöten in unseren „moralischen Anstalten“ Mit den
erotischen Reigentänzen mag endlich Schluß gemacht werden. J. L.