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11. Reigen
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Netional Zeitung, Barlis
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Schnitzlers „Reigen
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Schsaielhaus.
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J.A. B. Wozu der Lärm? Was steht der Hochschule für
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Prüderie zu Diensten? Ihre Professotenz d. h. ihre Bekenner,
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bilden eine Akademie von Unsterblichch, die nicht alle werden,
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auch nachdem der Hydra Zensur sämtliché Schnüffelhäupter ab¬
I.
geschlagen sind. Gestern konnte noch Frau Eysoldt als eine
i9 Märthrerin, die von sechs Wochen Haft bedroht ist, sich vor Arthur
r
Schnitzler stellen. Vor ihn und sein annutiges Geschnitzel, das
sich bei der Aufführung als durchaus ungefährlich erwies. Die
n behutsame Hand des ironisch sentimentalen Wiener Dichters hat
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den nun einmal nicht aus der Welt hinwegzuleugnenden
Naturalien den letzten Schein von Schimpflichkeit genommen.
Niemand fand Gelegenheit, sich zu entrüsten. Ja, man
applaudierte wärmer als es diesem spielerischen Einfall einer
müßigen Stunde sonst zugekommen wäre.
Jetzt, da die Beschwerde zurückgezogen ist und Frau Eysoldt
ungestört das rosigte Licht almen darf, kann man ruhig fest¬
stellen: es bestand keine Notwendigkeit, diesen Reigen verliebelter
Pärchen aus seinem verschwiegenen Buchdasein zu erlösen und
auf die Bühne tanzen zu lassen. Es sind zehn Anatol=Szenen
in der Westentasche. Sie hängen nicht innerlich, sondern nur
durch einen tragikomischen Witz zusammen. Diese Menschlein,
so verschieden sie sich dünken: Die Dirne, das Stubenmädchen,
das süße Mädel, die junge Frau, die Schauspielerin — der Soldat,
der junge Herr, der Ehemann, der Dichter. In einem Punkte
müssen sie alle gleichen Tribut entrichten, alle hängen sie als
Marionetten am selben Seil des Genius, auf den Schopenhauer
so schlecht zu sprechen ist, müssen sich zu zweit im Kreise drehen,
der bei der Dirne beginnt und zu ihr wieder zurückkehrt. Zehn
Szenen, und jede schließt eindeutig mit einem Akt, der im Buch
durch Gedankenstriche, auf der hier in einen G'schnas=Rahmen
gespannten Bühne durch das Fallen eines Seidenvorhangs an¬
gedeutet wird. Auch die Phraseosogie ist — nur mit kleinen
Nuancen — immer die gleiche. Man läßt sie mit einem melan¬
cholischen Lächeln über sich ergehen. Auf der einen Seite immer
dasselbe sich scheinbar sträubende Gewähren und drüben um¬
schlingt die lässigen Genießer am Ende alle dasselbe Band einer
von Rührung leicht gemilderten Tristitia. Dieser weichliche
Dichter, der in einer sorgenbeschwerten Zeit immer fühlbarer
zum Fremdling wird, ist mit seinen an die Oberfläche gehefteten
Konstatierungen im Grunde genommen kein tieferer Philosoph
als sein vor ihm belächelter Graf. Mag sein, daß Schnitzler, der
Arzt, noch un anderes denkt, was sich von Geschlecht zu Geschlecht
forterbt, daß er hinter diesem heiter=wehmictigen Parallelis¬
mus, hinter dem gar zu leichtherzigen Lebenstanz auch noch, ohne
undelikat an ihn zu erinnern, einen minder vergnüglichen Toten¬
tanz sieht. So unmoralisch den Schnellfertigen dieser Reigen
scheinen mag, in gewisser Hinsicht berührt er sich doch mit den.
Moralitäten des Mittelalters.
So sehr ist hier alles bewußt auf tyßische Wiederkehr ge¬
richtet, daß einzelne Szenen beim besten Willen nicht kurzweilig
wirken. Das meiste Pigment hat noch jener selbstironische Dialog
des Dichters mit dem süßen Mädel, dem Herr Ettlinger
und Frl. Poldi Müller den rechten Einschlag eitler Beobachtung
und herziger Schwindelei gaben, vor allem aber die beiden
lustigen Paradeszenen der Heroine, bei deren Darstellung sich
Fräulein Dergan mit der parodistischen Kopie eines berühm¬
ten Vorbilds half. Der vielseitige Herr Forster=Laeri¬
naga, der auch für die trällernde Verbindungs=Musik gesorgt
hatte, spielte sehr geschmackholl den liebenswürdig dümmlichen
Grafen und distinguierten jungen Dragoneroffizier.
Ein Verbot gegen Schnitler#Rei##in Berlin.
Aus Berlin, 23. d., wird gemeldet: Das Direktorium der
s4. GIEHSER1920
RajCPsPOsT WIEN
24.
Reichspost
Hochschule für Musik, in der das Kleine Schauspielhaus
seine Vorstellungen abhält, hat eine einstweilige Ver¬
fügung des Landgerichtes III erwirkt, welche die heutige
Aufführung von Schnitzlers. „Reigen“ untersagt. Das
Direktorium ist der Ansicht, daß die Aufführung des
„Reigen“ gegen den mit dem Direktorium geschlossenen
Mietvertrag verstößt, der Stücke verbietet, die in politi¬
scherf oder sittlicher Beziehung Anstoß eregen können. Der
„Reigen“ sei vom Landgericht I bereits einmal als un¬
sittlich erklärt worden. — Im protestantischen Berlin hat
mah selbst in dieser Zeit des furchtbarenusittlichen Nieder¬
ganges so viel guten Geschmack bewahrt, wenigstens solchen
Erzeignissen niedrigsten Sinnensitzels die Aufnahme zu
verweigern. In Wien hält man'es anders!
[„Der Reigen“. Die Aufführung troß Polfzeiverbokes.
Berlin, 24. Dezember. Gestern gab es hier eine Theater¬
sensation ganz eigener ArtSchnißlers-Der Rei¬
gen“ wurde im Kleinen Schauspielhaufe aufgeführt, krö߬
dem ein gerichtliches Verbot vorlag, weiches zwei Stunden
vor der Aufführung der Direktion zugestellt worden war.
Das Gericht hatte der Direktion unter Androhung einer
Haftstrafe aufgetragen, die Aufführung zu unterlassen und
weiter angedroht, daß eine versuchte Aufführung durch
Polizei verhindert werden würde. Die Direktion kümmerte
sich aber nicht darum. Schon eine Viertelstunde vor Beginn
war das Haus ausverkauft, Polizei aber nicht zu bemerken.
Die Direktorin des Theaters, die bekannte Künstlerin Frau
Gertrude Eysoldt, hielt vor Beginn eine Ansprache und
erklärte, daß die Direktion die angedrohte Haft auf sich
nehmen würde, um die Aufführung des Stückes zu ermög¬
lichen. Ihre Ansprache wurde vom Publikum mit demon¬
Schner Ta
Lins.
Nr. 294
24. Dezember 1920
strativem Beifall aufgenommen. Die Darstelung des
Stückes scheint aber keine besonders erlesene gewesen
u sein.
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Prüderie zu Diensten? Ihre Professotenz d. h. ihre Bekenner,
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auch nachdem der Hydra Zensur sämtliché Schnüffelhäupter ab¬
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i9 Märthrerin, die von sechs Wochen Haft bedroht ist, sich vor Arthur
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Schnitzler stellen. Vor ihn und sein annutiges Geschnitzel, das
sich bei der Aufführung als durchaus ungefährlich erwies. Die
n behutsame Hand des ironisch sentimentalen Wiener Dichters hat
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den nun einmal nicht aus der Welt hinwegzuleugnenden
Naturalien den letzten Schein von Schimpflichkeit genommen.
Niemand fand Gelegenheit, sich zu entrüsten. Ja, man
applaudierte wärmer als es diesem spielerischen Einfall einer
müßigen Stunde sonst zugekommen wäre.
Jetzt, da die Beschwerde zurückgezogen ist und Frau Eysoldt
ungestört das rosigte Licht almen darf, kann man ruhig fest¬
stellen: es bestand keine Notwendigkeit, diesen Reigen verliebelter
Pärchen aus seinem verschwiegenen Buchdasein zu erlösen und
auf die Bühne tanzen zu lassen. Es sind zehn Anatol=Szenen
in der Westentasche. Sie hängen nicht innerlich, sondern nur
durch einen tragikomischen Witz zusammen. Diese Menschlein,
so verschieden sie sich dünken: Die Dirne, das Stubenmädchen,
das süße Mädel, die junge Frau, die Schauspielerin — der Soldat,
der junge Herr, der Ehemann, der Dichter. In einem Punkte
müssen sie alle gleichen Tribut entrichten, alle hängen sie als
Marionetten am selben Seil des Genius, auf den Schopenhauer
so schlecht zu sprechen ist, müssen sich zu zweit im Kreise drehen,
der bei der Dirne beginnt und zu ihr wieder zurückkehrt. Zehn
Szenen, und jede schließt eindeutig mit einem Akt, der im Buch
durch Gedankenstriche, auf der hier in einen G'schnas=Rahmen
gespannten Bühne durch das Fallen eines Seidenvorhangs an¬
gedeutet wird. Auch die Phraseosogie ist — nur mit kleinen
Nuancen — immer die gleiche. Man läßt sie mit einem melan¬
cholischen Lächeln über sich ergehen. Auf der einen Seite immer
dasselbe sich scheinbar sträubende Gewähren und drüben um¬
schlingt die lässigen Genießer am Ende alle dasselbe Band einer
von Rührung leicht gemilderten Tristitia. Dieser weichliche
Dichter, der in einer sorgenbeschwerten Zeit immer fühlbarer
zum Fremdling wird, ist mit seinen an die Oberfläche gehefteten
Konstatierungen im Grunde genommen kein tieferer Philosoph
als sein vor ihm belächelter Graf. Mag sein, daß Schnitzler, der
Arzt, noch un anderes denkt, was sich von Geschlecht zu Geschlecht
forterbt, daß er hinter diesem heiter=wehmictigen Parallelis¬
mus, hinter dem gar zu leichtherzigen Lebenstanz auch noch, ohne
undelikat an ihn zu erinnern, einen minder vergnüglichen Toten¬
tanz sieht. So unmoralisch den Schnellfertigen dieser Reigen
scheinen mag, in gewisser Hinsicht berührt er sich doch mit den.
Moralitäten des Mittelalters.
So sehr ist hier alles bewußt auf tyßische Wiederkehr ge¬
richtet, daß einzelne Szenen beim besten Willen nicht kurzweilig
wirken. Das meiste Pigment hat noch jener selbstironische Dialog
des Dichters mit dem süßen Mädel, dem Herr Ettlinger
und Frl. Poldi Müller den rechten Einschlag eitler Beobachtung
und herziger Schwindelei gaben, vor allem aber die beiden
lustigen Paradeszenen der Heroine, bei deren Darstellung sich
Fräulein Dergan mit der parodistischen Kopie eines berühm¬
ten Vorbilds half. Der vielseitige Herr Forster=Laeri¬
naga, der auch für die trällernde Verbindungs=Musik gesorgt
hatte, spielte sehr geschmackholl den liebenswürdig dümmlichen
Grafen und distinguierten jungen Dragoneroffizier.
Ein Verbot gegen Schnitler#Rei##in Berlin.
Aus Berlin, 23. d., wird gemeldet: Das Direktorium der
s4. GIEHSER1920
RajCPsPOsT WIEN
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Hochschule für Musik, in der das Kleine Schauspielhaus
seine Vorstellungen abhält, hat eine einstweilige Ver¬
fügung des Landgerichtes III erwirkt, welche die heutige
Aufführung von Schnitzlers. „Reigen“ untersagt. Das
Direktorium ist der Ansicht, daß die Aufführung des
„Reigen“ gegen den mit dem Direktorium geschlossenen
Mietvertrag verstößt, der Stücke verbietet, die in politi¬
scherf oder sittlicher Beziehung Anstoß eregen können. Der
„Reigen“ sei vom Landgericht I bereits einmal als un¬
sittlich erklärt worden. — Im protestantischen Berlin hat
mah selbst in dieser Zeit des furchtbarenusittlichen Nieder¬
ganges so viel guten Geschmack bewahrt, wenigstens solchen
Erzeignissen niedrigsten Sinnensitzels die Aufnahme zu
verweigern. In Wien hält man'es anders!
[„Der Reigen“. Die Aufführung troß Polfzeiverbokes.
Berlin, 24. Dezember. Gestern gab es hier eine Theater¬
sensation ganz eigener ArtSchnißlers-Der Rei¬
gen“ wurde im Kleinen Schauspielhaufe aufgeführt, krö߬
dem ein gerichtliches Verbot vorlag, weiches zwei Stunden
vor der Aufführung der Direktion zugestellt worden war.
Das Gericht hatte der Direktion unter Androhung einer
Haftstrafe aufgetragen, die Aufführung zu unterlassen und
weiter angedroht, daß eine versuchte Aufführung durch
Polizei verhindert werden würde. Die Direktion kümmerte
sich aber nicht darum. Schon eine Viertelstunde vor Beginn
war das Haus ausverkauft, Polizei aber nicht zu bemerken.
Die Direktorin des Theaters, die bekannte Künstlerin Frau
Gertrude Eysoldt, hielt vor Beginn eine Ansprache und
erklärte, daß die Direktion die angedrohte Haft auf sich
nehmen würde, um die Aufführung des Stückes zu ermög¬
lichen. Ihre Ansprache wurde vom Publikum mit demon¬
Schner Ta
Lins.
Nr. 294
24. Dezember 1920
strativem Beifall aufgenommen. Die Darstelung des
Stückes scheint aber keine besonders erlesene gewesen
u sein.