II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 720

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11. Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung:
77
Welt am Mo
Ort:
Datum:
SADLIR
Theater und Musik.
Geschlecht und Charakter.
Nätlich sprachen wir hier von Wilde und Shaw. Eine noch
günstigere, Gelegenheit, die beiden zu vergleichen, bietet die letzte
Theateswoche. Oskar Wildes berühmtestes Bühnenspiel ist die ein¬
altige Wakome: Mit rafsiniertesten Farben gemalt, ein Bild
vom Wesen der Ueberhiltur; unfnchtbare anfromme Lebenskraft
rast in geschlechtlichen Verzückungen mörderiich daher. (Und solche
Rolle läßt sich selbstverstöndlich Fräulein Orska auf die Dauer
nicht entgehen.) — Auch Vernard Shaw weiß sohr gut, daß er¬
starrende, unfruchtbar werdende Kulturen in geschlechtlichen Aus¬
schweifungem vermlern. Aber nicht im mindesten reizt es seimen
Ehrzuz, dies Bild der Verwesung antistisch zu verklären. Wenn
ben ihm aus dem prachtvoll söizz'erten Geröll in tausendfachem
Aberglauben erstarrter ägyotischer Kultur ein heißer Quell weib¬
Kleopatra, ei Kind, ein Kätz¬
licher Lebenskraft hervorschießt —
chen, ein Dämon, so treibt es ihn keineswegs Kurben toller Sinn¬
lichkeit bewaindeund nachznzeichnen; er schreüdt sein „Spiel für
Puritaner“ um den tragikomischen Versuch eines Gentes zu
zeigen, aus solch einem Geschöpf ein Welb, eine Königin und gar
einen Peuschen zu machen. Seine ganze Licbe aber gehört dem
Cäsar. Und wenn der gut irische Spötter auch hier durchaus
anmerken muß, daß diesser Cäsar ein Mensch ist, der sich gern
reden hört und keineswogs gern an seine Jahre erinnert wird, st
ist er für ihn nichtsdestoweniger der Inbegriff aller Genialität,
das heißt, der Fähigkeit, nicht vom sinnlichen Affelt, nicht von
Haß und Liebe, sondern von den Dingen selbst das Gesetz der
Handelns zu empfangen. Wie hinmelhoch erhebt sich die Gestalt
dieses Cäfar über all die pazif stischen Programmredmer, die wir
in diesen Jahrem vor und hiter der Rampe anhören mußten. Er
weiß, daß Nache und Gewalt nie. etwas anderes wie
neue Rache und Gewilt in de Welt setzen, und er
weiß auch, daß ein Menisch, der das wohrhaft begreift,
werden
die Welt erobern, cder von ihr gekreuzigt
muß. Er seinerseits ist befähigt und entschlossen, sie zu er¬
obern, wobei er über lebensgefährliche Tiger auf seinem Wege
keinesegs wie ein moralischer Engländer zu Gericht sitzt, son¬
dern sie garz einsoch lötet. Worin sich seine ganze ungeheute sitt¬
siche Ueberlegenkeit ausbrückt! Die Leebe zu dieser Gestalt gibt
Shaws „Cäsar und Kleopatra“ trotz ihrer geringen dra¬
motischen Spennung einen ununtertrechen wirisamen diehie¬
rischen Reiz. wie er laum von einem anderen Werk dieses großen
Sozialpoelen erreicht wird. — Das Berliner Publikum, das vor
15 Jahren in einer ausgezeichneten Aufführung (mit Steinrück
und der Eysoldt) röllig versagt hatte, ging diesmal begeistert mit
und das lag dach viel mehr am Wachstum von Shaws Autorität
als an Herrn Wenthausens Inszinierung am Deutschen Theater.
Die machte oft etwas leeren Lärm und war in Strichen und Zu¬
sätzen nicht sehr glücklich. Werner Kraus freilich machte mit
seiner trockenen Klarheit und prosaischen Würde einen unüber¬
trefflichen Cäsar, Else Eckersberg war nicht elementar, aber
doch eine schlichlere und liebenswürdige Königsgöre, als ich ge¬
hofft hatle. Der kleine Peter Eysoldt war reizend, Max
Gülsdorf als prähisiorischer Genileman erschütternd komisch.
und Tini Senders als gefährlich, gedunsene Reichsamme
wiederzusehen, war erfreulich. Aber in Nebenrollen gab es Un¬
zulängliches end Schlimmes das Schlimmste wohl durch einen
Herrn Rasp, der nicht einen „Dilettanten“, sondern a's Diletiant
spielte, nämlich jenen Sizilier, den damals der eben verstorbene
Alexander Eckert mit all seiner handfesten Liebenswürdig¬
keit verkörvert hatte.
Tags darauf große Sensation im Kleinen Schauspielhause.
Trotz der vom Ministerium (das in der Ha#schule für Musik
——
Hausrecht hat) erwirkten Hastandrohung spielte man helden¬
Ich muß die schöne Ge¬
mütig Schnitzlers „Reigen“.
mordlischer Entrüstung über die Feinde
legenheit zu
vorüber¬
unbenutzt
leider
Freiheit
künstlerischen
der
Plauderszenen aus
81000
Schnitzlers skeptische
lassen.
gehen
seiner ohne Seele, Glauben und Leidenschaft hinbröckelnden
erotischen Kultur haben gewiß stilistischen Reiz und geschicht¬
— ich bin gewiß bereit,
liches Interesse. Auf der Bühne hingegen
von der Fähigkeit der Theaterleute, nichts zu begreifen, was
hnen unbequem ist, die größte Meinung zu hegen; dennoch ver¬
mag ich nicht, ihnen zu glauben, daß isie glauben: die hundert¬
tausend Besucher, die bisher die „Büchse der Pandora“ gefüllt
haben, und nun ebenso oft in „Reigen“ gehen sollen, seien ge¬
kommen, um den dämonischen Verwirrungen des Wedelindschen
Geistes nachzuspüren, würden kommen, um Schnitzlers stilistische
Reize zu suchen. — Diese völlig undramatische Szenenreihe soll
ein Geschäft werden, weil zehnmal bei verdunkelter Bühne ein
Geschlechtsakt vollzogen wird. Und jeder lügt, der behauptet, daß
die geschäftliche Grundrechnung anders sei! Aus diesem Grunde
bringe ich keinerlei protestierende Begeisierung auf, obwohl die
Inszenierung mit den Bildern von Ernst Stern wirklich ge¬
chmackvoll und diskret ist und einzelne Glieder der ineinander¬
gehakten Liebespaare auch schauspielerisch sehr amüsant waren.
Die geistig distanzierende Kraft in diesen lau=witzigen Sexual¬
studien ist doch allzu unsicher und leise, um in dem vergröberten
Licht der Bühne das rein Stoffliche des Gegenstandes über¬
winden zu können. Und ich meine, daß in der Kunst jede Art
von Einnlichkeit ein schrankenloses Daseinsrecht hat, solange sich
an ihr die Form gebenden Kräfte der Seele und des Geistes
gestalten; erscheint das Sinnliche aber um seiner selbst willen,
ofüttert man das Chaos, und das Geschlecht verdirbt den künst¬
Julius Bab.
erischen Charakter.