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11. Reigen
Riöse & Geidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung:
Ort:
Datum: —
VEL. 920
Der Tanz um den „Reigen“.—
Unser Blegliner Schauspielreferent schreibt:
Einen Täg vor Weihnachten wurde der Frie¬
den auf Erden erschüttert, aber in den Feier¬
So
tagen ist die „Affaire“ sanft verflossen.
könnte man die Geschichte den Berliner Wochen¬
chronikeuren zu munterem Nachruf überlassen.
Doch etwas mahnt aus diesem Erlebnis heraus,
vor den verschworenen finsteren Geisterchen auf
der Hut zu sein, die durch Mauerritzen und
Schlüssellöcher in die Freistatt der Kunst schlüp¬
fen.
Statt allgemeiner Betrachtungen soll hier
gleich der Fall selbst gegeben werden! Nur ein
Wort voraus, Mißverständnissen vorzubeugen:
Selbstverständlich wird die Freiheit von der
Frechheit mißbraucht. Das war immer so und
ogar in Zeiten, in denen Freiheit nur in klei¬
nen Näpfchen verabreicht wurde. Nicht etwa
bloß auf sogenannt geistigem Boden geschieht's:
auf dem ist aber sehr häufig nur das Fleisch
stark. Sollen der Frechen wegen die Freien
büßen?
Die Film=Industrie — sie stellt an den
Geist von vornherein bescheidene Ansprüche! —
bot besondere, üppig benutzte Gelegenheit, Po¬
lizei und Sittlichkeit zu verwechseln, sintemalen
die Ausbeuter der Geschlechtlichkeit nicht im
Zweifel ließen, daß für sie mit den Fesseln der
Zensur die Schranken von Anständigkeit und
Geschmack niedergebrochen waren. Wozu — ja,
man muß vorsichtig unterscheiden! — zu bemer¬
ken ist, daß ein höherer, ein künstlerischer Ge¬
chmack um seiner selbst willen immer anstän¬
dig ist, auch dann, wenn die Prüderie sich be¬
kreuzt. Aber die von Geist und Anmut verlas¬
sene Spekulation aufgelüpfte Battisthemdchen?
Item! Wer, wie Schreiber dieser Zeilen das
Unglück hat, dem Film=Zensur=Beirat anzuge¬
hören, der lernte bald aus Erfahrung, daß auch
ein „demokratisches“ Zensurgesetz im Grunde
nur einen anderen Namen hat als ein könig¬
liches oder großherzogliches. Der Teufel nennt
sich jetzt Beelzebub. Man lernte es am bärtigen
Eifer mancher Volkspädagogen, die, als Tugend¬
wächter ins Kollegium entsandt, sinnenfrohe
Lichtbilder mit längst geläufigen Missionsreden
begleiten und viel schöne Kinder mit ihrem
Wortbad verschütten. Man fühlt's noch grimmi¬
ger an manchem Zwiespalt in der eigenen
Brust. Denn selbstverständlich möchte man von
Herzen gern manchen Kitsch vertilgen — gleich¬
viel, ob er tüchtig oder halb bekleidet ist! —
aber selbst in scharfen Fällen warnt eine innere
Stimme vor dem Präjudiz. Was heute dem
Brüstchen irgendeiner Lulu geschieht, wird es
nicht morgen mit gleichem „Recht“ Aspasiens
enthüllter Göttlichkeit widerfahren? Paß' auf
Nachtwächter! Die Tugendbündler gehen um
mit Einbrecherwerkzeug! Die innere Stimme
ist vernünftig. Denn wirklich: etwa mit einer
besonderen Schutzvorrichtung gegen die Wißbe¬
gierde der Jugendlichen versehen, reichen
die bürgerlichen Gesetze gegen den roheren Un¬
ug gerade aus. Man soll dem Teufel nicht den
kleinen Finger einer verschämten Zensur bie¬
ten; Beelzebub packt unverschämt die ganze
Hand!
*
Aber die ernste Angelegenheit beginnt erst
jenseits des Films. Bei der Theater=Zensur.
Beginnt? Da hat sie doch zu sein Rechtens auf¬
gehört! Wir haben in Deutschland nach dem
Willen der Verfassung eine Theaterzensur nicht
mehr. Sie ist, nach einem jahrhundertelangem
Ringen des geistigen Deutschlands mit dem Au¬
toritätsstaat, des Geistes von Weimar mit dem
Geiste von Potsdam, den alten Hoheitsrechten
n die Gruft gefolgt. Sie ist begraben. Soll ich
ier gleich gewissen Literarhistorikern einen To¬
en ausgraben, um ihn mit aller Kunst der Kri¬
tik noch einmal zu henken?
Aber — ist die Theaterzensur auch wirklich be¬
graben?
Am Tag vor Weihnachten hat sich in Berlin
ereignet, was hier den Akten der Zeitgeschichte
übergeben sei:
Im „Kleinen Schauspielhaus“ — Di¬
rektion Gertrud Eysoldt und Maximilian Sla¬
war die Uraufführung von Arthur
dek —
Schnitzlers „Reigen“ für den 23. Dezember
angekündigt. Wer nicht fremd ist in der Litera¬
tur der letzten 30 Jahre, ist vertraut mit dem
dem
seinnervigen und skeptischen Wiener —
Europäer. Weiß auch, daß Schnitzler, der me¬
ancholische Philosoph der Erotik, mit seinen
zarten Fingern letzte Schleier von der Tragi¬
komödie der Geschlechter hebt, anmutig und doch
chonungslos, lächelnd und ernst. Die Grazien
und der Weltgeist machten ihn zum österreichi¬
schen Bruder (nicht etwa zum Nachkommen!)
Maupassants, des Franzosen. Jener Sünder
oder Tor, der Schnitzler — in einseitiger bedenk¬
licher Genußfähigkeit oder in zelotischer Blind¬
einen Pornographen schilt, er muß
—
heit
Shakespeare, den schlechten Kerl, für die Meu¬
chelmorde Richards III. verantwortlich machen!
Auch den „Reigen“, die zehn erotischen Szenen,
kennt man seit länger als 20 Jahren ... In
der alten Welt (vor 1918) war nicht nur die Auf¬
führung, nein, zeit= und ortsweilig auch das
Buch verboten. Um so heftiger fand es Verbrei¬
tung. Kam selbstverständlich auch in die Hände
vieler, die dem Besinner der Natur (siehe Scho¬
penhauer über den tückischen Knalleffekt der
Natur!) nicht nachzusinnen, ihm nur Sinnlichkeit
abzuschmeicheln imstande waren. Was will es
agen? Manches Blatt in Goethes Werken
erhitzt menschliche Kaninchen! Nicht so borniert,
wie es auf den ersten Blick scheinen will, waren
die Religionslehrer, die den Urtext der Bibel
breiten Volkskreisen vorenthielten. Aber in
der Kunst geht es nicht mit dem Verbergen.
Kämen um der Anfälligen und Kranken willen
die Gesunden zu Schaden. Müßten um der Ar¬
men im Geiste willen alle glücklichen Geister ins
geistige Armenhaus. Vom Theater forderte der
alte Lessing, wahrhaftig ein Erzieher des Men¬
schengeschlechts, daß es allwöchentlich Aufführün¬
gen nur für reife Männer veranstalte; damit
nicht durch Prüderie und Verlogenheit die dra¬
matische Kunst auf den Hund komme. Rücksicht
11. Reigen
Riöse & Geidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung:
Ort:
Datum: —
VEL. 920
Der Tanz um den „Reigen“.—
Unser Blegliner Schauspielreferent schreibt:
Einen Täg vor Weihnachten wurde der Frie¬
den auf Erden erschüttert, aber in den Feier¬
So
tagen ist die „Affaire“ sanft verflossen.
könnte man die Geschichte den Berliner Wochen¬
chronikeuren zu munterem Nachruf überlassen.
Doch etwas mahnt aus diesem Erlebnis heraus,
vor den verschworenen finsteren Geisterchen auf
der Hut zu sein, die durch Mauerritzen und
Schlüssellöcher in die Freistatt der Kunst schlüp¬
fen.
Statt allgemeiner Betrachtungen soll hier
gleich der Fall selbst gegeben werden! Nur ein
Wort voraus, Mißverständnissen vorzubeugen:
Selbstverständlich wird die Freiheit von der
Frechheit mißbraucht. Das war immer so und
ogar in Zeiten, in denen Freiheit nur in klei¬
nen Näpfchen verabreicht wurde. Nicht etwa
bloß auf sogenannt geistigem Boden geschieht's:
auf dem ist aber sehr häufig nur das Fleisch
stark. Sollen der Frechen wegen die Freien
büßen?
Die Film=Industrie — sie stellt an den
Geist von vornherein bescheidene Ansprüche! —
bot besondere, üppig benutzte Gelegenheit, Po¬
lizei und Sittlichkeit zu verwechseln, sintemalen
die Ausbeuter der Geschlechtlichkeit nicht im
Zweifel ließen, daß für sie mit den Fesseln der
Zensur die Schranken von Anständigkeit und
Geschmack niedergebrochen waren. Wozu — ja,
man muß vorsichtig unterscheiden! — zu bemer¬
ken ist, daß ein höherer, ein künstlerischer Ge¬
chmack um seiner selbst willen immer anstän¬
dig ist, auch dann, wenn die Prüderie sich be¬
kreuzt. Aber die von Geist und Anmut verlas¬
sene Spekulation aufgelüpfte Battisthemdchen?
Item! Wer, wie Schreiber dieser Zeilen das
Unglück hat, dem Film=Zensur=Beirat anzuge¬
hören, der lernte bald aus Erfahrung, daß auch
ein „demokratisches“ Zensurgesetz im Grunde
nur einen anderen Namen hat als ein könig¬
liches oder großherzogliches. Der Teufel nennt
sich jetzt Beelzebub. Man lernte es am bärtigen
Eifer mancher Volkspädagogen, die, als Tugend¬
wächter ins Kollegium entsandt, sinnenfrohe
Lichtbilder mit längst geläufigen Missionsreden
begleiten und viel schöne Kinder mit ihrem
Wortbad verschütten. Man fühlt's noch grimmi¬
ger an manchem Zwiespalt in der eigenen
Brust. Denn selbstverständlich möchte man von
Herzen gern manchen Kitsch vertilgen — gleich¬
viel, ob er tüchtig oder halb bekleidet ist! —
aber selbst in scharfen Fällen warnt eine innere
Stimme vor dem Präjudiz. Was heute dem
Brüstchen irgendeiner Lulu geschieht, wird es
nicht morgen mit gleichem „Recht“ Aspasiens
enthüllter Göttlichkeit widerfahren? Paß' auf
Nachtwächter! Die Tugendbündler gehen um
mit Einbrecherwerkzeug! Die innere Stimme
ist vernünftig. Denn wirklich: etwa mit einer
besonderen Schutzvorrichtung gegen die Wißbe¬
gierde der Jugendlichen versehen, reichen
die bürgerlichen Gesetze gegen den roheren Un¬
ug gerade aus. Man soll dem Teufel nicht den
kleinen Finger einer verschämten Zensur bie¬
ten; Beelzebub packt unverschämt die ganze
Hand!
*
Aber die ernste Angelegenheit beginnt erst
jenseits des Films. Bei der Theater=Zensur.
Beginnt? Da hat sie doch zu sein Rechtens auf¬
gehört! Wir haben in Deutschland nach dem
Willen der Verfassung eine Theaterzensur nicht
mehr. Sie ist, nach einem jahrhundertelangem
Ringen des geistigen Deutschlands mit dem Au¬
toritätsstaat, des Geistes von Weimar mit dem
Geiste von Potsdam, den alten Hoheitsrechten
n die Gruft gefolgt. Sie ist begraben. Soll ich
ier gleich gewissen Literarhistorikern einen To¬
en ausgraben, um ihn mit aller Kunst der Kri¬
tik noch einmal zu henken?
Aber — ist die Theaterzensur auch wirklich be¬
graben?
Am Tag vor Weihnachten hat sich in Berlin
ereignet, was hier den Akten der Zeitgeschichte
übergeben sei:
Im „Kleinen Schauspielhaus“ — Di¬
rektion Gertrud Eysoldt und Maximilian Sla¬
war die Uraufführung von Arthur
dek —
Schnitzlers „Reigen“ für den 23. Dezember
angekündigt. Wer nicht fremd ist in der Litera¬
tur der letzten 30 Jahre, ist vertraut mit dem
dem
seinnervigen und skeptischen Wiener —
Europäer. Weiß auch, daß Schnitzler, der me¬
ancholische Philosoph der Erotik, mit seinen
zarten Fingern letzte Schleier von der Tragi¬
komödie der Geschlechter hebt, anmutig und doch
chonungslos, lächelnd und ernst. Die Grazien
und der Weltgeist machten ihn zum österreichi¬
schen Bruder (nicht etwa zum Nachkommen!)
Maupassants, des Franzosen. Jener Sünder
oder Tor, der Schnitzler — in einseitiger bedenk¬
licher Genußfähigkeit oder in zelotischer Blind¬
einen Pornographen schilt, er muß
—
heit
Shakespeare, den schlechten Kerl, für die Meu¬
chelmorde Richards III. verantwortlich machen!
Auch den „Reigen“, die zehn erotischen Szenen,
kennt man seit länger als 20 Jahren ... In
der alten Welt (vor 1918) war nicht nur die Auf¬
führung, nein, zeit= und ortsweilig auch das
Buch verboten. Um so heftiger fand es Verbrei¬
tung. Kam selbstverständlich auch in die Hände
vieler, die dem Besinner der Natur (siehe Scho¬
penhauer über den tückischen Knalleffekt der
Natur!) nicht nachzusinnen, ihm nur Sinnlichkeit
abzuschmeicheln imstande waren. Was will es
agen? Manches Blatt in Goethes Werken
erhitzt menschliche Kaninchen! Nicht so borniert,
wie es auf den ersten Blick scheinen will, waren
die Religionslehrer, die den Urtext der Bibel
breiten Volkskreisen vorenthielten. Aber in
der Kunst geht es nicht mit dem Verbergen.
Kämen um der Anfälligen und Kranken willen
die Gesunden zu Schaden. Müßten um der Ar¬
men im Geiste willen alle glücklichen Geister ins
geistige Armenhaus. Vom Theater forderte der
alte Lessing, wahrhaftig ein Erzieher des Men¬
schengeschlechts, daß es allwöchentlich Aufführün¬
gen nur für reife Männer veranstalte; damit
nicht durch Prüderie und Verlogenheit die dra¬
matische Kunst auf den Hund komme. Rücksicht