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11. Bigen
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Die Zukunft
gilt, obwohl es nur über sein Eigenstes verfügt und auf seine
Art durchaus „reell“ handelt, als prostituirt und geschän¬
det. Und ein Serienspiel, das die selben Grimassen allabend¬
lich ein paar Hundert Wohlhabenden, zum selben Zweck
des Gelderwerbes, vorführt, soll ich als ein Gebild reiner
Kunst in Ehrfurcht anstaunen?
Herz und Nieren, Willen und Vorstellung der Direktion
des Kleinen Schauspielhauses zu prüfen, ist nicht meines Am¬
tes; ich habe Frau Eysoldt stets als ernste Künstlerin geschätzt
und bin weitab von jedem Wunsch, sieoder ihren Sozius üblen
Wollens zu verdächtigen. Möglich, daß sie nicht sehen, was
ist. Was ist? An der Kasse werden bis zu hundert, dem
Zwischenhändler bis zu vierhundert Mark für den Platz ge¬
zahlt; und um diese Plätze rauft alltäglich die Menge. Welche?
Dem aufstrebenden Künstler, dem Beamten, Richter, Forscher,
Gelehrten, dem schlichten Bürger, gar dem Proletarier, sind
nochdie „billigen“ Plätze unerschwinglich. Warein Werkedler
Kunst derdeutschen Bühne zuerobern: warumgab mansnicht
dieser Schicht? Warum reservirte mans Denen, die Sprach¬
gebrauch von heute Schieber, Schleichhändler, Parasiten des
Krieges und Umsturzes nennt? Will ein Ernster im Ernst
behaupten, diese Leute drängten sich an die Kasse, um Kunst
zu genießen? Ist nicht ein Unterschied, ob ich leckere Zoten¬
malerei (von Rops oder Zichy: um nicht große Namen zu
nennen, von denen derzierliche Fein=Schnitzlererdrückt würde).
in ein öffentliches Museum, unter andersartige Kunstwerke
hänge oder in einem nur gegen ungemein hohe Einlaßge¬
bühr zugänglichen Sälchen den von Stoffgier hingetriebenen
Schlecker#Von hundert Reigen=Süchtigen wollen (min¬
destens) n###g ohne Plumpheit, sacht angegeilt werden
oder, wenn Das nicht mehr öglich ist, wohlig die Erin¬
nerung schlürfen, „wie Das einmal war“. Daß sie „Mutti“,
verwegene sogar die Tochter mitnehmen, trüffelt die Lust.
Einst zog Berlin in Lokale, an deren Gartengitter, weiß auf
Grün, stand: „Hier können Familien Kaffee kochen“. Long
ago. Jetzt sind die Orte beliebt, über deren Pforte, in Gold¬
lettern, stehen dürfte: „Hier können Familien Zoten hören.“
Ich möchte nicht zweifeln, daß der Künstler Schnitzler,
wenn er diese Wirklichkeit sähe, wie sie, unbestreitbar, ist,
lieber hungern als Einkunft aus so unsauberem Quell schöpfen
würde. Er kann nicht wünschen, daß die Menschen, die
in Deutschland Theaterbesuch noch zu erkaufen vermögen,
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Die Zukunft
gilt, obwohl es nur über sein Eigenstes verfügt und auf seine
Art durchaus „reell“ handelt, als prostituirt und geschän¬
det. Und ein Serienspiel, das die selben Grimassen allabend¬
lich ein paar Hundert Wohlhabenden, zum selben Zweck
des Gelderwerbes, vorführt, soll ich als ein Gebild reiner
Kunst in Ehrfurcht anstaunen?
Herz und Nieren, Willen und Vorstellung der Direktion
des Kleinen Schauspielhauses zu prüfen, ist nicht meines Am¬
tes; ich habe Frau Eysoldt stets als ernste Künstlerin geschätzt
und bin weitab von jedem Wunsch, sieoder ihren Sozius üblen
Wollens zu verdächtigen. Möglich, daß sie nicht sehen, was
ist. Was ist? An der Kasse werden bis zu hundert, dem
Zwischenhändler bis zu vierhundert Mark für den Platz ge¬
zahlt; und um diese Plätze rauft alltäglich die Menge. Welche?
Dem aufstrebenden Künstler, dem Beamten, Richter, Forscher,
Gelehrten, dem schlichten Bürger, gar dem Proletarier, sind
nochdie „billigen“ Plätze unerschwinglich. Warein Werkedler
Kunst derdeutschen Bühne zuerobern: warumgab mansnicht
dieser Schicht? Warum reservirte mans Denen, die Sprach¬
gebrauch von heute Schieber, Schleichhändler, Parasiten des
Krieges und Umsturzes nennt? Will ein Ernster im Ernst
behaupten, diese Leute drängten sich an die Kasse, um Kunst
zu genießen? Ist nicht ein Unterschied, ob ich leckere Zoten¬
malerei (von Rops oder Zichy: um nicht große Namen zu
nennen, von denen derzierliche Fein=Schnitzlererdrückt würde).
in ein öffentliches Museum, unter andersartige Kunstwerke
hänge oder in einem nur gegen ungemein hohe Einlaßge¬
bühr zugänglichen Sälchen den von Stoffgier hingetriebenen
Schlecker#Von hundert Reigen=Süchtigen wollen (min¬
destens) n###g ohne Plumpheit, sacht angegeilt werden
oder, wenn Das nicht mehr öglich ist, wohlig die Erin¬
nerung schlürfen, „wie Das einmal war“. Daß sie „Mutti“,
verwegene sogar die Tochter mitnehmen, trüffelt die Lust.
Einst zog Berlin in Lokale, an deren Gartengitter, weiß auf
Grün, stand: „Hier können Familien Kaffee kochen“. Long
ago. Jetzt sind die Orte beliebt, über deren Pforte, in Gold¬
lettern, stehen dürfte: „Hier können Familien Zoten hören.“
Ich möchte nicht zweifeln, daß der Künstler Schnitzler,
wenn er diese Wirklichkeit sähe, wie sie, unbestreitbar, ist,
lieber hungern als Einkunft aus so unsauberem Quell schöpfen
würde. Er kann nicht wünschen, daß die Menschen, die
in Deutschland Theaterbesuch noch zu erkaufen vermögen,