II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 770

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Dienstag
entlehntem, künstlich gehitztem Erotenreiz zu erbrüten. Wer diesen
Reiz klug nutzt, kann mit Talentaufwand, von dem anderer Stof
noch nicht genießbar würde, einem großen Publikum den Gaumen
litzeln. „Reigen“ ist ein ganz von dieses Reizes sumpfig schillernder
Gnade lebendes Parergon. Nicht stark, den Meisterwerken der
uralten) Gattung nicht einmal von fern zu vergleichen, nur in einer
einzigen, dem Erlebniszufall nachgeschriebenen Szene (deren Personen¬
urbilder der Kundige mit Händen greifen kann) schwer von
der Wucht des allzu Menschlichen, das bis in den luftigen
Bereich des Humors auswippt; als Ganzes das nette Neben¬
werk eknes Geistreichen, der weder den Mut zu allverachtender
Frechheit noch die wilde Grazie, die sonnentrunkene Lyrik
des hoch siver Sittlichkeit und Sitte seiner Zeit aufgebäumten
aristophanischen Dichters hat. Daß dieses Ding wurde
ist kein Unglück; wäre es nie geworden: kein der Pflege
wertes grünes Spitzchen fehlte im Garten unserer Literatur
Eine jenseits von deutscher Zensurmacht hergestellte Ausgabe („für
Liebhaber“, „für Kunstfreunde“ oder wie man's, nach berüchtigtem
Muster, sonst nennen mochte), hätte dem Verfasser ein hübsches
Stück Geld eingebracht. Er hat's verschmäht: offenbar in dem noblen
Gefühl, daß so würzig an vespasianische Münze erinnernde Einkunst
ihm nicht zieme. Nur Freunden, ernsthaft in Kunstbetrachtung Versenkten
wurde zunächst, ohne jede Entgeltsforderung, das Buch ge¬
der österreichischen
schickt. Ob nach dem Niederbruch
Wirtschaft, in dem Wien, wo das Gulasch (nicht etwa in
Luxusschenken) sechzig Kronen kostet, Herrn Schnitzler der
Gedanke an „Verwertung“ der alten Nebenarbeit nahte und
übetmannte, weiß ich nicht. Nach der Fassadenänderung, die der
deutsche Drang, „allen Komfort der Neuzeit“ auch in sein Haus
zu raffen, noch manchmal eine Revolution nennt, tauchte
auch bei uns der Wunsch auf, die Konjunktur hüllenloser
Sexualiendarstellung auszunutzen und den „Reigen“
auf
offener Bühne, vor Zahlungsfähigen, tanzen zu lassen.
Der mit der Verantwortlichkeit für ein großes Heer An¬
gestellter bebürdete, von der Sorge für den über alles Erwarten
hinaus verteuerten Riesenbau des Großen Schauspielhauses
bedrückte Künstler Max Reinhardt war überredet worden,
sich das Aufführungsrecht für seine Kammerspielbühne zu sichern
„sonst erlbiebt es morgen ein anderer"); stimmte mir aber sofort
zu, als ich seiner Frage, ob die Aufführung mir ratsam scheine,
antwortete: „Durch die Ausstellung von Akten, die den
** „
vorbereiten, Geld zu verdienen, kann und muß Reinhardt anderen
überlassen. Er hat, trotz mancher Schwierigkeit in der Spielplan¬
gestaltung, aus seinem Recht nicht Zins gezogen, die . .. gespräche
nicht auf seine Bühne gebracht. Und er wäre, vielleicht, der Einzige
gewesen, dessen Thegtergenie ihnen ein szenisches Phantasiegewand
von eigenem Kunstwert zu wirken vermöchte.
Jetzt huschen sie über eine Bühne, der, nur zu diesem
Zweck, ein Personal gemietet wurde und deren kränkelnde
Wirtschaft sie „sanieren“ sollen. Ueber die Bühne der staat¬
lichen Hochschule für Musik, die diesen Raum für einen
Spottpreis, tief unter dem Selbstkostenauswand,
gegen
das feierliche Versprechen priesterlich reiner Kunstpflege
hingegeben hat und deren jugendlichen, oft noch kindhaften Zög¬
lingen erleichterter Einlaß in diese Vorstellungen vom Direktorium
verbürgt ist. Auf solche Bühne taugte schon nicht die Lulu
Wedekinds (der neben dem seelisch elegantesten Schnitzler
doch wie ein Gigant neben einem Gigerl stünde), nicht
Zu¬
die in Winkelprostitution Hinabgesunkene, die der
nach
chauer drei Männer von der Straße auflobern,
einander über die Szene ködern sieht und nebenan mit ihrem
welten Leib sättigen (beinah) hört. Dort aber war immerhin noch
katholische Herrlichkeiten der Stadt selbst mit, der schauerlich¬
phantastische Glockenchor, ein Zug der Beghinen und dazwischen eine
Gankleiszene, die das dramatische Scherzo der Oper bildet, mit vielen
Figuren, wie eine italienische Commedia dell' arte, toll, sprühend
mit zahllosen geistreichen Einzelheiten, fliegenden Ensemble¬
stellen und dem Hauptstück eines zättlichen, mit reizender
wienetischer Anmut ersundenen. Sechsachtel, in dessen Mitte
ein schwarmerischer Baßwalzer liegt. Das Ganze im
geisterhatten Kolorit eines Spukbildes. Diese zauberische
Szene hat nicht ihresgleichen in der Opernliteratur.
Nur die Hand eines geistsprühenden Lustspielkomponisten konnte
sie formen. Als Aktabschluß schließt sich ein „geträumtes“ Liebesduett
an, in welchem die erotische Stimmung zu stark überspannt und
überhitzt ist. Das A-dur dieser Stretta kocht in Weißglut.
Zur Traumhandlung gehört im dritten Akt der groß
Konesitionsmarsch, der sich im Orchester riesenhaft steigert und ei
Neues Wiener Journal
Tragödieuluft, war Symbolik, die Paarung das Sinnbild einer
Erlebnissumme; und darunter Franks kirchenväterlich keusches
Schaudern vor all dem Unheil, das der Pandorabüchse entströmt.
In dem „Reigen“, der auf der Bühne nur die am Stoff Klebenden
nicht langweilt, ist nichts, soll gac nichts anderes sein als spiele¬
rische Darstellung des Reizes, der auf die vasomotorischen
Nerven wirkt. Hier soll nur gezeigt, mit Zuckslämmchen
illuminiert werden, wie Erregung wird und wieder abschwillt. Ist
die Kluft nicht sichtbar, die Tiefe des Unterschiedes nicht ruchbar?
Shakespeares majestätische Weisheit ließ uns Julia Capulet, noch
matt vom süßen Weh erster Umarmung, in Romeos Arm auf dem
Lager sehen und hören. Diese Vermählung der Leiber empfinden
wir als notwendige Frucht der Seelenvermählung, die wir seit
dem Blitzstrahl im Ballsaal werden sahen. Ist solches ewigen
Wunders Darstellung gleichartig, gar gleichwertig einer, die zu
zeigen bemüht ist, wie ein Männchen ein Weibchen eräugt, das
auf seine Nerven reizend wirkt und das er an sich, an dem er
ich geschlechtlich zu erwirmen sucht?
Auch diese Darstellung, ruft man, sei erlaubt; denn der
Freiheit det Kunst sei nirgends eine Grenze gesetzt. Nirgends,
auch da, wo sie in öffentliches Gewerbe austritt? Euer
„Reigen“ zeugt gegen elch. Weshalb werden die Um¬
armungsakte selbst, in deren Verlauf oft die echtesten mensch¬
tierisch tiefsten Laute aus Mannheit und Weibheit aufheulen,
aufkeuchen, nicht vorgeführt, sondern durch kritische Fetzen
von Musik ersetzt, der hier (unter dem Dach der Hochschule
ür Musik) das Amt des Stimmung machenden Klavierspielers in
einem verrufenen Hause zugewiesen ist? Weil dem Gewerbe öffent¬
icher Kunstausstellung eben doch eine Grenze gezogen ist.
Wo läuft sie? Auf der Linie, die leidenschaftliche Wallung
von Prostitution scheidet. Und Prostitution, scheint mir, ist da,
vo die Gebärde sexualer Begierde von dem Zweck des
Gelderwerbes bestimmt ist. Das Weib, das seinen Schoß
em Stundenmieter öffnet und ihm eine der Höhe des Pacht¬
zinses angemessene Erregtheit oder Paarungslust vortäuscht,
gilt, obwohl es nur über sein Eigenstes verfügt und auf seine
Art durchaus „reell“ handelt, als prostituiert und geschändet.
Und ein Serienspiel, das dieselben Grimassen allabendlich ein paar
hundert Wohlhabenden, zum selben Zweck des Gelderwerbes, vor¬
ührt, soll ich als ein Gebild reiner Kunst in Ehrfurcht an¬
staunen?
Herz und Nieren, Willen und Vorstellung der Direktion
es Kleinen Schauspielhauses zu prüfen, ist nicht meines Amtes;
ich habe Frau Eysoldt stets als ernste Künstlerin geschätzt und
Wollens zu verdächtigen. Möglich, daß sie nicht sehen, was
ist. Was ist? An der Kasse werden bis zu hundert, dem Zwischen¬
händler bis zu vierhundert Mark für den Platz gezahlt; und um
diese Plätze rausi alltäglich die Menge. Welche? Dem aufstrebenden
Künstler, dem Beamten, Richter, Forscher, Gelehrten, dem
chlichten Bürger, gar dem Prolezarier sind noch die „billigen
Plätze unerschwinglich. War ein Werk edler Kunst der deutschen
Bühne zu erobern: warum gab man's nicht dieser Schicht?
Warien reservierte man's denen, die Sprachgebrauch von heute
Schieder, Schleichhändler, Parasiten des Krieges und Umsturzes
nennt? Will ein Ernster im Ernst behaupten, diese
Leute drängten sich an die Kasse, um Kunst zu genießen?
Ist nicht ein Unterschied, ob ich leckere Zotenmalerei
von Rops oder Zichy: um nicht große Namen zu
nennen, von denen der zierliche Fein=Schnitzler erdrückt würde) in
ein öffentliches Museum, unter andersartige Kunstwerke
hänge oder in einem nur gegen ungemein hohe Einla߬
gebühr zugänglichen Sälchen den von Stoffgier hingetriebenen
Schleckern zeige? Von hundert Reigensüchtigen wollen (min¬
destens) neunzig ohne Plumpheit, sacht angegeilt werden oder,
wenn das nicht mehr möglich ist, wohlig die Erinnerung
schlürsen, „wie das einmal war". Das sie „Mutti“
Verwegene sogar die Tochter mitnehmen, trüffelt die Lust
Einst zog Berlin in Lokale, an deren Gartengitter, weiß auf
GBrün, stand: „Hier können Familien Kaffee kochen“. Long
ago. Jetzt sind die Otte beliebt, über deren Pforte, in Gold¬
lettern, stehen dürfte: „Hier können Familien Zoten hören“.
Ich möchte nicht zweifeln, daß der Künstler Schnitzler,
wenn er diese Wirklichkeit sähe, wie sie, unbestreitbat,
ist,
lieber hungern als Einkunst aus so unsauberem Quell schöpfen
vürde. Er kann nicht wünschen, daß die Menschen, die
in Deutschland Theaterbesuch noch zu eikausen vermögen,
mit der Nervenpeitsche und mit Kantharidenreiz so lange „trainiert“
werden, bis sie ganz und gar unfähig geworden sind, dem Wort
stiller Seelenkünstler still zu lauschen und dem Drama, das in

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