II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 786

11. Reigen
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Erfrorener Frühling
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einreißenden sinlichen Tiefstandes nachdrücklichst vorgeführt.
Es wird gezeigt, wie durch einen unedlen und unvollkommenen
Genuß des Augenblickes gedankenlos und würdelos zu Boden
getreien wird, was der Menschheit das Heiligste sein sollte.
Die Wiederholung der nämlichen Redewendung seitens der
nämlichen Person bei zwei verschiedlenen Anlässen und die
Wiederkehr solcher Wendungen bei verschiedenen Personen in
ähnlicher Lage kennzeichnen ireffend jenen Mangel an Eigenart
und Selbständigkeit, auf dem der geringe Persönlichkeitwerth
des Durchschnittsmenschen unserer Zeit beruht. Diese Ent¬
würdigung des Geschlechisverkehrs zur Allläglichkeit, zur
Laune, zum Leichtsinn, zum Abenteuer, dies Fehlen jeder gro¬
Ben, tiefen, sittlich begründeten, echten, edlen Leidenschaft
wirken erschütternd, weil sie auf richtiger Beobachtung beruhen.
Inmitten der einzelnen Bilder, wenn zur Andeutung der
sich vollzieirenden Vereinigung der Vorhang auf wenige Sekun¬
den sich schließt, und zwischen den einzelnen Bildern erfönt
eine Musik von Celesia und Cello oder Geige und Flöte. Diese
Musik lehnt sich an keine Kunsiform an und ist dazu bestimmt,
mit ihren erotischen Phrasen die Stimmung festzuhalten, die
in dem Augenblick herrschi, in dem der Vorhang den Fortgang
der Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten Ab¬
sicht der Antragsgegner gipfeln in der Erzielung eines sittlichen
Ekels vor dem Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerung¬
schichten auf dem Gebiele des Geschlechtslebens. Auf diesen
Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei je¬
dem reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor Allem be¬
ruht diese Wirkung auf der ernsten Hingabe der Antragsgegner
an ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen Kenntniß der Wir¬
kung der szenischen Darstellung. Auch mag die Benutzung des
von Max Reinhardt verfaßten Regiebuches ihnen werthvolle
Dienste geleistet haben. In der zweiten vom Gericht besich¬
tigten Aufführung verloren im vierten Bilde der weibliche Theil,
im neunten Bilde beide Theile die Haltung, indem sie gerade
an Stellen von entscheidender Bedeutung ohne jeden Zusam¬
menhang mit ihrer Rolle in den Zuschauerraum hineinlachten.
Es ist kennzeichnend für den hohen Stand der Aufführung, daß
durch diese an sich sehr bedauerlichen Entgleisungen der Ge¬
sammtwirkung kein Abbruch geschah. So bedeutet diese
Aufführung eine sittliche That.
Es bestcht zwar die Gefahr, daß der Reigen auf unreife
oder unzitreichend gebildete oder schlecht erzogene ’oder sitt¬