II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 813

11.
Reigen
ein. Rätselhaft bleibt es mir, wie
Erscheinung während der Vor¬
lich in ihrem kleinen Kavalier zu
vermag, um erst während der
Ende der Vorstellung wieder aus
tauchen. „Reigen“ auf der Bühne
en dieser ehrenwerten Mitbesucher!
preise sind hoch, sehr hoch; aber all
nehmen sichtlich eine entsprechend
ung mit auf ihren weiteren Abend¬
esem unkünstlerischen Eindruck der
stehe ich, daß beispielsweise das
Bezirksamt die Aufführung des
bietet. Aber ich gebe mich auch
ung hin, daß die Durchschnittsbe¬
keigen“ alles das, was gerade sie
ück suchen, auch auf sonstige Weise
nie schöne Zahl! In der Mehrzahl
hen Städte muß man alle lebenden
er vom ältesten Greis bis zum
gling zusammenraffen, um zu die¬
gelangen. In Berlin aber stellt
hon 73.500 nur die Menschenmenge
dden einzelnen heißen Sonntagen
mFlecken Grünau („Irünau“) mit
ahn flüchten. Was dagegen insge¬
iner Menschheit auf den Berliner
ergondelt, das beläuft sich durch¬
den einzelnen Sonntagen auf 2,1
gäste! Man kann sich das gehobene
vorstellen, mit dem man sich an
heißen Feiertag den überfüllten
rortsstrecken als zweimillionen¬
sendundeinter Fahrgast anver¬
rster Stelle steht begreiflicherweise
nach Ausflugsorten mit Freibä¬
t 73 500, Nikolassee 66 000, Rahns¬
sw.). Die armen Uferstrecken der
pree, der Dahme und der verschie¬
müssen viel erdulden, bis jeder
tige Berliner samt Kind, Mutter
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und Schwiegermutter sein Plätzlein gefunden
hat. Kilometerweit stolpert man über Menschen,
die ihre Körperschönheit zu 50 bis 98 von Hun¬
dert frei von hindernden und verdeckenden
Hüllen der allgemeinen Bewunderung änheim¬
stellen. Gütiger Sonnenschein! Man spricht so
viel von der Häßlichkeit und Unzweckmäßigkeit
der Menschentracht; aber angesichts dieser Ent¬
hüllungen segnet man die heutige Kleidung, die
so viel Merkwürdiges gnädig bedeckt! Da ruhen
ie im Ufersand, diese wogenden Füllen reifsten
Menschentums: „Muttern“ in neckischem, etwas
eingegangenen schwarzen Trikot, hält die Kaf¬
feekanne, die eine verzweifelte Aehnlichkeit mit
unserer verflossenen Friedenspetroleumskanne
hat. „Vatta“ führt schlemmerisch die henkellose
Kaffeetasse mit ihrem geheimnisvollen dunkeln
Inhalt zum Munde und die 5 kleinen männ¬
lichen Orgelpfeifen haeren sehnsüchtig des Au¬
genblicks, in dem auch sie ihre Margarinestulle
mit dem lauen Cichoriennaß anfeuchten können.
Frieda aber, die 16jährige Aelteste im Rosa=Tri¬
kot, hat sich ein bischen nebenhinaus „ins Je¬
büsch gedrückt, um die handfesten Huldigungen
des schönen Georg mit der Sportsbadehose des
Rummelburger Jungmannenschwimmklubs und
dem blauen Anker auf dem Unterarm entgegen¬
zunehmen. „Aber Orje“ meint sie sanft ab¬
wehrend, „willste nu nicht lieber wieda int'
Wasser jehn? — Als flammendes Warnungs¬
zeichen für alle kommunistischen Schwärmer und
onstige Verächter des Sondereigentums macht
sich sofort, selbst auf dem gemeinsamen Flu߬
ufer, die Sonderbesitzgier geltend: am Morgen
umzäunt gar mancher erste Ankömmling 3 nahe
tehende Bäume mit einem dünnen Faden und
heischt und erhält von späteren Strandwande¬
rern Achtung vor seinem kleinen eintägigen
Freiluftbesitz.
Man hört so viel von der Rohheit und Unsitt¬
ichkeit der Berliner Freibäder. Mag sein, daß
ich mit allzu ländlich=naiven Augen an die Sache
herangehe: ich selbst habe aber zwar viel Gro¬
tesk=Komisches gesehen (wie beispielsweise den
freundlichen Herrn im Damenbadekostüm) und
auch viel Aesthetisch=Unbefriedigendes; unmittel¬
bar Widerliches und Verletzendes in der Hal¬
tung der Besucher ist mir dagegen in diesen
Freibädern bis jetzt nicht entgegengetreten.
Abends aber setzt ein wilder Sturm auf die
Eisenbahn ein. Es gehört hierbei die ganze
Genügsamkeit und Gutherzigkeit der eingebere¬
neu Berliner dazu, um z. B. in Grünau die
Verstauung der 73 500 Ausflügler in den unge¬
nügenden, heißen Eisenbahnwagen ohne schwere
Zu sammenstöße zu ermöglichen. Bis dann
glücklich das Heim im Häusermeer erreicht ist,
rinnt der Schmeiß aus allen Poren des eisen¬
bahngepökelten Körpers; Staub und Rußflocken
lagern auf dem geröteten Antlitz und nur im
Inneren der braven Freilusteroberer bleibt ein
klei winziges Restlein von Sonnenschein am
grünen Ufer des freundlichen Flusses.