II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 819

11.
R
igen
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Dekadenz.
Wenn Nießsche von „Umwertung der sittlichen Werte
Grunde liegt, welche sich ebenso im menschlichen Geiste
redet, so meint er damit Umwertung nach oben hin: Um¬
wie in der Natur offenbark. Durch das Schöne aber,
wertung im Sinne kapferer Selbstüberwindung, immer stei¬
lerer Aufgaben, immer härterer Selbstzucht. In unseren Tagen
das dem Guten und Wahren verwandt ist, sieht sich
bedeutet „Umwertung“ meistens Umwertung nach unten hin:
der denkende Geist auf einen letzten Quell der Schön¬
nach der Richtung des Tierischen. Ein Theater, das seine
heit hingewiesen, auf einen Schöpfer, so daß Winkel¬
Vorstellungen mit Schnitzlers „Reigen“ beginnt, stellt sich
mann sagen konnte: „Die höchste Schönheit ist in
hiermit programmatisch in den Dienst der Umwertung der
sittlichen Werke in dem schlechtesten Sinne.“
Gotk.“ Echte Kunst ist auch der Religion verwandt.
Wie diese in dem Bestreben des Menschen besteht,
Wenn der österreichische Minister Glanz mit sei¬
sich an eine höhere geahnte Macht hinzugeben, um sich
nem Urteil Recht hat, zu welcher Gruppe von Men¬
und sein Dasein zu erhöhen, so bewirkt auch jene eine
schen soll man die in Berlin im „Reigen'-Prozeß
solche Erhöhung des menschlichen Daseins für den
ihres Amtes waltende Richterschaft, die zu einem
Einzelnen wie für die ganze Gattung. Und schließlich
Freispruch der Angeklagten gelangte, dann eigentlich
hat die Kunst ihre höchsten Leistungen stets und überall
zählen? Von der Berliner Polizei, die sich in unge¬
im Verein mit der Religion hervorgebracht.
trübter Sachkenntnis immerfort dazu mißbrauchen
Hatte nun die Berliner Richterschaft auch von der
läßt, Pseudo-Vestalinnen gleich, Abend für Abend
Kunst keine Ahnung? Ist ihr anläßlich ihrer Ver¬
auf Wunsch und nach Bedarf selbst im Massenauf¬
handlungen im Gerichtssaal und während des Lokal¬
gebot sorgsam das Feuer im Tempel der Göttin
termins im Theater bei der Vorstellung nicht die Ver¬
Venus vulgivaga zu betreuen, damit es ja nicht vor¬
antwortung gegenüber der Allgemeinheit zentner¬
zeitig erlösche, soll hier gar nicht erst gesprochen wer¬
chwer auf die Seele gefallen? Aber deutsche Richter
den. Untere Organe haben bereits des öfteren be¬
ind Knechte des unsittlichen römischen Rechtes, Buch¬
wiesen, daß sie nicht den wahren vom falschen Ruhe¬
staben- und Paragraphenmenschen, die offiziell nichts
und Ordnungsstörer unterscheiden können.
weiter verstehen und zu verstehen haben. Sie wissen
Seit der November-Revolution ist die Volks¬
auch selbst, daß sie sich durch das abstrackum pro
gesamtheit gleichsam über Nacht, ohne es selbst zu
concreto z. B. von ihren französischen und englischen
wissen, nach dem Urteil solcher, die nur im Radau ge¬
Kollegen sehr erheblich unterscheiden. So nehmen sie
deihen, politisch reif geworden. Aber nicht nur das
auch in punkto Kunst in erbarmungswürdiger Hilf¬
allein. Die Masse ist plötzlich auch „kunftverständig'
losigkeit das Gutachten der Sachverständigen ent¬
geworden, wie der Einzelne nur des besten Willens
gegen, das für sie im wesentlichen zum Urkeil wird.
zum Guten fähig. Da war es selbstverständlich höchste
Ob sie es sich auch persönlich zu eigen machen, hat da¬
Zeit, die Thealerzensur, dieses Überbleibsel aus des
mit nicht das geringste zu kun. Allerdings könnte man
Volkes Unmündigkeit, abzuschaffen. Man besaß ja
sich unter besonderen Umständen sehr wohl einen grö¬
zur Not, wenn man sich bei dieser Entschließung
ßeren Eifer beim Richter vorstellen. Angenommen
wirklich sollte überrumpeln lassen oder getäuscht
z. B., ein dem Gerichtsgebäude benachbarter Ge¬
haben, immer noch im Strafgesetzbuch den § 183, der
werbebekrieb erzeugt fortgesetzt penetranke Gerüche,
den mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geld¬
was die darunter leidende Justizverwaltung veranlaßt,
strafe bis zu fünfhundert Mark bestraft, der durch
wegen Abstellung der Übelstände Klage zu erheben.
eine unzüchtige Handiung öffentlich ein Argernis gibt.
Sachverständige, wie meinetwegen jüdische Vieh¬
Wahre Kunst kann nun niemals Argernis erregen,
händler, Hopfenschwefler und Chemiker würden dann
denn sie ist, kurz gesagt, Mitteilung des ästhelisch
übereinstimmend aussagen, daß die Gerüche wohl ge¬
Werkvollen, das wir als das Schöne bezeichnen. Was
rade nicht angenehm aber durchaus nicht schädlich
der Künstler geleistet hat, muß der Genießende nach¬
wären, und daß man sich bald an dieselben gewöhnen
erleben, indem er das Kunstwerk geichsam nach
könne. Wer da glaubt, daß daraufhin der Gerichtshof
schafft. Er muß somit Phankasie und Gefühl in Be¬
mit einer müden und lässigen Handbewegung zum
wegung setzen. Wer das in Richtung des Schnitzier¬
Freispruch resp. zur Zurücknahme der Klage käme,
schen „Reigen“ tut, der landet bei der „freien Liebe“,
und daß auf Grund dieser überzeugenden Gutachten,
bei der größten sittlichen Verwahrlosung, bei der Auf¬
die an dem fraglichen Industriezweig gänzlich uninter¬
lösung der Familien- und Volksgemeinschaft, für
essierten germanischen Nasen die verpestete Luft nun
deren schwerwiegende kulturelle Folgen nur ein rein
lustig weiterschnappen werden, der dürfte sich wahr¬
wirkschaftlich und international orientierter Staat ohne
cheinlich bald eines besseren belehrt sehen. Denn
Verständnis sein kann. Ist man sich ferner darüber
hier handelt es sich einfach nicht mehr um das corpus
klar geworden, welch niedere Motive Inhalt und For¬
uris, sondern das corpus mea. Not kennt kein Ge¬
men des „Reigen' schufen, der eine nicht mehr zu
bot.
überbiekende Geschmackslosigkeit offenbart, so weise
Und nichts anderes ist es schließlich, wenn wir dieser
man auch ganz energisch das Heer der öffentlichen
unzüchtigen Schlammflut, die unter dem Deckmantel
Kritiker von sich, die in einer gewissen Presse in dieser
der Kunst unser Volk zu verseuchen droht, allem Ge¬
Sache für ihren Rassegenossen warm Partei er¬
fasel eines gewissen Kunstheldentums gegenüber, das
greifen. Sagen wir ihnen einmal unmißverständlich,
in Gedanken an seine Eitelkeit, Geldbörse und zügel¬
was uns in unseren Kunst-Auffassungen trennt. Für
lose Sinnlichkeit, in seinen Worten nur immer von
uns liegt Werk und Ziel der Kunst im Schönen, das
einer Bedrohung und Vergewaltigung der Kunst
nicht durch Willkür bestimmt wird, sondern dem eine
spricht, ganz energischen Widerstand entgegensetzen.
in der Weltentwicklung waltende Gesetzmäßigkeit zu
Als mutigen und troß aller Hetze unbeirrbaren Kämpfer