II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 820

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11. Reigen
Dekadenz.
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Zeit mit ihren ganz anders gearteten, niedriger ge¬
in diesem Streit begrüßen wir den vom Gericht ge¬
spannten geistigen Strömungen ja doch nur unvoll¬
ladenen Sachverständigen
kommen. So ist das Mittelmäßige und Niedere mit
Regierungsrat Professor Dr. Karl Brunner,
der Neigung zu immer weiterer Senkung unser „hei¬
der dem „Reigen' die allein mögliche Kritik ange¬
liger' Kunstbesitz. Davon sind wir erfüllt und damit
deihen ließ. Da die Verkeidigung aber 25 Sach¬
prunkt unsere Zeit. Wäre die kulturelle und damit
verständige lud, entschied, wie leider so oft im Leben,
auch sittliche Basis der Gegenwart nicht so unglaublich
die Masse und nicht die Qualität; die jüdische Kunst¬
tief, es würde gar nicht möglich sein, Stücke vom
auffassung siegte, wie vordem schon das Geld und
Schlage des „Reigen' aufzuführen. Aber man spürt
die Dresse, über die deutsche in Deutschland. Das
zwischen ihnen und der allgemeinen „Kunst'-Richtung
hätte im Interesse unseres niedergebrochenen Va¬
unserer Tage schon kaum mehr eine Ungleichheit im
terlandes und seiner Zukunft vermieden werden
Niveau. Das öffentliche Gewissen mit seiner jedes
sollen. Denn es handelt sich für unser Volk um
Augenmaß vermissen lassenden Toleranz ist so weit
Lebensgesetze und Naturnotwendigkeiten, deren
geworden, daß vom Edelsten bis zum Elendsten dar¬
Durchkreuzung durch unsittliche Daseinsformen, die
nnen Platz hat. Man geht eben mit der Zeit oder
die heutige sogenannte „Kunst' mühelos zu studieren
auch man läßt sich gehen, und dann gibt es in der Un¬
ermöglicht, seine völlige Auflösung zur Folge haben
sittlichkeit überhaupt keine Grenzen mehr nach unten.
muß. Das Ergebnis im Reigen'-Prozeß eröffnet
Von der „Büchse der Pandora' ging es über die
uns einen trüben Ausblick. Prof. Brunner faßt sein
„Unberührte Frau' und die „Ehelei' nicht aus künst¬
Urkeil darüber in folgende Worte zusammen:
lerischen, sondern geschäftlichen Motiven zum Rei¬
„Die Wirkung des Freispruchs im „Reigen'-Prozeß ist,
gen. Stefan Großmann mit seiner das deutsche Emp¬
daß für alle öffentlichen Veranstaltungen die zwar verhüllte,
finden immer erneut abstoßenden Geschmacklosigkeit
aber doch ohne weiteres verständliche Zote, die den Zweck des
hat die Stirn, wie zur Verhöhnung des Brunnerschen
Unzüchtigen hat, freigegeben ist, weil sie keine greifbare un¬
Sittlichkeitsstandpunktes, unser gemütvolles Weih¬
züchtige Handlung darstellt.
nachtslied in den Kot zu treten. „Stille Nacht, schein¬
Wer sein Volk liebt, wer da weiß, daß es Erziehung
heilige Nacht' läßt er sich unflätig in seinem „Tage¬
und Führung bedarf und zwar in unserer Zeit mehr
buch' vernehmen. Die deutsche Frau Gerkrud Eysoldt,
denn je, dem krampft sich angesichts solcher Fest¬
die gerichtliche Verfügungen ostentativ als „Fetzen
stellungen das Herz, und Ausdruck seiner schmerz¬
Papier' behandelte, um den Schmuß-„Reigen' trotz
lichen Empfindungen ist nur das eine: Dekadenz!!
alledem einem „kunstliebenden' Publikum vorsetzen
Prof. Brunner tat mannhaft seine Pflicht und ist,
zu können, ist in der zweiten Weihnachtsnummer der
das weist sein ganzer Werdegang, seine Erfolge und
„Eleganken Welt' unter der Bezeichnung: „Die
sein Weltruf, den er als Literatursachverständiger und
tapfere Berliner Direktorin' abgebildet. Nach einem
deutscher Jugendpfleger genießt, unendlich viel kunst¬
in Berlin kursierenden Gerücht, soll der aus Galizien
verständiger als mancher Vorlaute, der ihn und sein
stammende Staatstheater-Intendank und Film-Re¬
segensreiches Wirken nicht kennt und darum um so
gisseur der „Hintertreppe' den Ausspruch gekan haben:
dreister kritisiert. In der W. a. M. glaubt Dr. Frosch
„Ich engagiere an das preußische Staatstheater von
alias Dr. Fischer, Hamburg der Sachverständigkeit
jetzt ab nur noch Juden. Das würde dann auch einer
Prof. Brunners allen Ernstes dadurch Abbruch tun
Fremdherrschaft in der Kunst gleichkommen! Die
zu können, daß dieser wie auch Prof. Faßbender, so
Leute um Fulda, Kerr und Holländer schwelgen jetzt
gut wie nie ins Theater gehen, während die Gegen¬
bereits förmlich in sadistischen Travestien auf die Hei¬
seite in unmittelbarer Beziehung zur lebendigen Kunst,
ligtümer unserer Herzen. Künstler wie Corinth, Zille,
insbesondere zur Kunst der Bühne stehe. Ich glaube
Geiger und andere zeichnen für den Verlag Gurlitt
nun zunächst, daß es nur von Vorteil für ein unpar¬
unsittliche Mappenwerke in kostbarer Ausstaltung, die
teiisches Urteil sein kann, wenn man genügend Ab¬
unter dem Gesamttitel „Der Venuswagen' zu ent¬
stand von Dingen hat, und mit ihnen nicht förmlich
prechenden Preisen erscheinen. Der Schriftsteller
verwachsen ist. Auch ist Kunst letzten Endes Seelen¬
Curk Corinth schreibt unsittliche Romane. Celly de
angelegenheit, nicht Angelegenheit der Bühnentechnik
Rheidt führt Nackttänze auf. In der Villa Born¬
oder Schauspielerhüllen. Des weiteren ist dann aber
gräber gibt es Nacktsoupers und auf öffentlichen
doch wohl zu sagen, daß man bei ständiger Berüh¬
Bühnen Ruditätenschau. Spielwut an allen Ecken
rung mit der heutigen sogenannten Kunst sich gründ¬
und Enden. Nächtliche Razzien in den Großstädten
ich den Geschmack verderben kann. Seit mehr als
aus Anlaß des überhand nehmenden Dirnen-, Schie¬
zwanzig Jahren ist kaum etwas für die Bühne ge¬
ber- und Verbrecherkums. Schlemmerei einerseits,
schrieben, in der die Sittenlosigkeit, Unzucht, Ehe¬
namenloses Elend anderseits — im sozialistischen
bruch usw. nicht eine mehr oder minder zweifelhafte
Staat. Die sich „anständig' vorkommende „große
Rolle spielte, in einer die Phankasie, das Gemüt
Presse', mit allen Mitteln um die Gunst der Massen
und die Moral ungünstig beeinflußenden Weise.
buhlend, überbietet sich bei jeder passenden Gelegen¬
Künstlerisch Hervorragendes oder wirklich Großes,
heit in schwülen, auf immer neuen Sinnenkitzel an¬
von dem hier gar nicht gesprochen sein soll, wird
gelegten Berichten, denen nur ein sehr dürftiges „an¬
unsere Generation nach Spengler ja ohnehin nicht
ständiges' Mäntelchen umgehängt ist. Und der Dichter
mehr hervorbringen, und die Glanzleistungen ei¬
Georg Kaiser, der Verfasser der Dramen „Gas', „Die
gener und anderer früherer Kulturen erfaßt unsere
Bürger von Calais', „Die Koralle' usw. möchte wie