II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 825

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Re
gen
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Reigen...
Von Doris Wittner.
Vor nahezu einem Vierteljahrhundert schrieb Arthur Schnitzler,
Österreichs nachdenksamster Ironiker, zehn funkelnde, blankgeschliffene Dia¬
loge, die das unerschöpfliche Thema von der ars amandi in zehn launigen
Variationen abwandelten und denen Schnitzler den zusammenfassenden Titel
„Reigen“ schenkte.
Wohlverstanden: es ist der — eytherische Reigen, der geschlungen
und ineinander verflochten wird von allen Ständen und Klassen, von hoch
und niedrig, arm und reich, jung und alt; und der mit seinem leuchtenden
Ring letzten Endes alle menschlichen Komödien und Tragödien umschließt.
Es kam Schnitzler darauf an, zu zeigen, daß hinter den meisten Duppenspielen
der Menschheit als gebieterischer und überlegener Drahtzieher Eros steht,
und vielleicht lag ihm mehr noch an dem Beweis, daß der Menschen Wahn
und Wähnen dort, wo sie am süßesten sind und am zeitlosesten scheinen, doch
immer in — Täuschung und Enttäuschung münden.
Schnitzler ist in seinen dramatischen Dialogen graziös, aber —
uner¬
schrocken, zart, aber — verwegen. And er verstößt wider des Bürgers
selbstgerechte und selbstgefällige Aberlieferung in den himmlischen und ge¬
heimen Dingen der Moral.
„Ihr habt das Necht, gesittet Pfui zu sagen. Man darf das nicht vor
keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können.
Eine fürweise und hochwohllöbliche Obrigkeit schützte dereinst — vor
einem Vierteljahrhundert — den österreichischen wie den deutschen Staats¬
bürger davor, das Antlitz der Wahrheit — im Spiegel Schnitzlerscher Dich¬
tung — unverhüllt zu erblicken. Die vita sexualis, aus der alles — sogar
deutsches und österreichisches — Leben sprießt, gehörte in Gedanken und
Meinung offizieller und offiziöser Behörden zu der Menschheit verbotenen
Gegenständen. Man konnte insgeheim womöglich nach Krafft=Ebing leben;
wenn man sich nur öffentlich mehr oder weniger zum Märchen vom Storch
bekannte und die vorschriftsmäßigen Scheuklappen mit der vorschrifts¬
mäßigen Eleganz trug. Nimmermehr durfte das Recht, „gesittet Pfui zu
sagen“, verwirkt werden. Schnitzler, dessen Werk von einem hohen Gerichts¬
hof als „objektiv unzüchtig“ erkannt worden, unterlag selbst der Suggestion des
gesellschaftlichen „cant“ so sehr, daß er seine eigene Schöpfung als nicht für
die Bühne gedacht und geeignet erklärte. Fünfundzwanzig Jahre hindurch!
In diesem Zeitraum sind die Reiche, deren Exponenten jene geistfremden,
wahrheitsfeindlichen Amtsvertreter waren, gestürzt und kläglich in sich zer¬
fallen. Der rote Rausch des Amsturzes ist — nach dem Katzenjammer mili¬
tärischer Niederlagen — über sie hingebraust. Statt Neaktion spricht man
heut: Revolution. And statt fürder in Demut die Handschellen der Knechts¬
seligkeit zu tragen, schreit man heut in allen Gassen und Gossen die Freiheit
aus. Freiheit — auch in litteris et artibus!
Berlin, das nie den Ehrgeiz besaß, die „rote Heilandsstadt der Frei¬
heit“ zu werden oder vor der Welt vorzustellen; eben diesem Berlin blieb es
vorbehalten, totgeglaubte Gesinnungen und Gesittungen wenigstens vor¬
übergehend zu galvanisieren.
Eine künstlerisch wohlakkreditierte Theaterdirektion (an deren Spitze
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