II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 826

11. Reigen
box 18/1
das gescheite Mannweib und die geniale Schauspielerin Gertrud Eysoldt
steht) unternimmt wagemutig das Experiment, die viel und oft verfehmte
Theaterdichtung (es ist eine Theaterdichtung — malgré tout) auf der
Bühne mit Takt und Geschmack zu interpretieren. Flugs ist der Spektakel
da. Der Spektakel und das Spektakel. So recht eine „Hetz“, wie der
Wiener in ähnlichen Fällen schmunzelt.
Einstweilige Verfügung, vom Gericht ausgebracht, Darstellungsverbot
drei Stunden vor der Aufführung. Alarmierende und irreführende Zei¬
tungsnotizen; ein alarmiertes und irregeführtes Publikum. Stürmchen in
Liliputgläsern — abgestandenen Wassers! Der Hauswirt des Theaters
besinnt sich plötzlich eines Paragraphen
die „Hochschule für Musik“ —
in seinem Mietsvertrage, wonach sein Mieter, nämlich das „Kleine Schauspiel¬
haus“, keine „politisch, religiös oder sittlich anstößigen“ Stücke zur Aufführung
bringen darf. — Besinnt sich dieses Paragraphen etwas jäh, nachdem er zwei
Jahre hindurch in seinen heiligen Hallen die unheilige „Büchse der Pandora“
aufführen ließ, ohne dadurch das Anstandsgefühl des sogenannten „Normal¬
menschen“ anscheinend zu verletzen. Immerhin: jetzt, unmittelbar, ehe die
zärtlichen Rhythmen des „Reigen“ aufflattern sollen, wird dröhnend die
„sittliche Forderung“ erhoben. And — die Szene wird zum Tribunal. Der
arme, schamhafte Bürger des nachkriegerischen, nachrevolutionären Berlin,
dessen Tugend durch die Epidemie der Aufklärungsfilme, durch zahllose
Aufführungen von „Schloß Wetterstein“, „Erdgeist“ (mit Lulu Orska) und
ähnlichen, sexuell belehrenden Werken, ferner durch die Darbietungen Celly
de Rheidts und ihrer mannigfachen Epigoninnen, durch Tanzdielen und
Nacktballette nachdrücklich geläutert worden ist, dieser arme, schamhafte
Bürger muß vor einer endgültigen Verderbnis durch — wirkliche Kunst ge¬
schützt werden. Der Kinderglauben an den Storch muß ihm wiedergegeben
werden. Darum: Rechtsanwälte von Nang, Nichter und Behörden auf
den Plan! — Die Sittlichkeit muß geschützt werden vor der Kunst!
Mancher dachte: „olle Kamellen!“, oft schon erlebt, erlauscht, erlogen!
Manch' anderer dachte: Deutschland dürfe im absteigenden Jahre 1920
andere, gewichtigere Sorgen haben als die schutzbedürftige Moral weiblicher
und männlicher Backfische. Gleichviel: als man den kleinen, intimen Musen¬
tempel in der Hardenbergstraße betrat, fand man eine dynamitgeladene
Atmosphäre vor. Man entrüstete sich fürbaß — hüben und drüben! Zur
Rechten und zur Linken. Ein Skandälchen — vielleicht sogar ein kulturell¬
politischer Monstre=Skandal — lag in der Luft.
Und dann kam alles — wie immer — ganz anders. Frau Direktorin
Eysoldt — mit den in Tragik erstarrten Zügen einer Meduse — drückte sich
eine kleidsame Märtyrerkrone auf das — von sechs Wochen Haft bedrohte
Haupt. Zuschauer und Zuhörer jubelten, ohne zu wissen, warum, wieso und
Aklien-
Brauerei Königstadt gesellschaft
lorden
Schönhauser Allee 10
Hervorragende Qualitäisbiere
16