II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 846

11. Reigen
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Sein erster dramatischer Versuch war der „Anatol“. Das sind
Szenen aus dem Leben eines Wiener Müßiggängers, der mindestens die
eine Kunst besitzt, auf eine nicht gemeine Weise müßig zu sein — eine solche
Tugend muß in einem Lande und in einer Epoche der Arbeit besonders
gerühmt werden — wie viele Deutsche verstehen sich noch auf die edleren
Künste des Müßigganges? Und morgen werden Produktivität und Ueber¬
fluß, die in der Kultur der Faulheit steckten, ganz untergegangen sein,
wenigstens für dies Jahrhundert. Vom „Anatol“ bis zu dem letzten
„Casanova“=Lustspiel Schnitzlers, das ist von einer Schaffenszeit, die etwa
um 1890 begann und 1920 noch nicht erlahmt war, hat Schnitzler immer
nur um die Liebe und den Tod, der zu ihr gehört, herumgedichtet. Werke
wie „Der junge Medardus“, in denen er sich von seinem Thema entfernt
hatte, sind ihm auch nur bruchstückweise geglückt. Seine rundesten Arbeiten
waren dem Phänomen der erotischen Leidenschaft gewidmet, vom „Anatol
zur „Liebelei“, von den „Lebendigen Stunden“ bis zum „Einsamen Weg“.
Hat er im „Anatol“ die kleinen Affären des „jungen Herrn“ aus gutem
Wiener Haus gemalt, so hat er in der „Liebelei“ das Trauerspiel des
„Süßen Mädels“ gegeben, in den „Lebendigen Stunden“ hat er die durch
Literatur entstandene Parodie auf eine Liebestragödie dargestellt, im
„Freiwild“ hat er sich mit dem Liebesschicksal der Schauspielerin zum ersten
Mal beschäftigt.
Im „Reigen“ marschieren nun alle Schnitzlerfiguren seiner eroti¬
schen Komödien auf: Das süße Mädel, der junge Herr, die anständige
junge Frau, der Schriftsteller, die Schauspielerin usw. Im „Reigen“ sind
alle Schnitzlerdramen enthalten. Weil sie alle erotische Komödien sind,
deshalb finden sie im „Reigen“ Platz, der die Extrakte aus ihnen gibt. Hier
sind die Schnitzlerschen Themen ohne lyrischen Aufputz mit einem philo¬
ophischen Zynismus gesehen, der den Szenen im Zusammenhang erst den
Charakter starker Geistigkeit gibt. In dem Parallelismus der Szenen
liegt ihre tiefere Bedeutung, unausgesprochen, in den Pausen zwischen den
Szenen. Hier kommt eine erste Altersgeste Schnitzlers zum Vorschein.
Ueber diesen, immer wieder nach denselben Gesetzen sich wiederholenden
Rasereien könnte Theodor Fontanes überlegene Altersweisheit stehen:
„Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
Ach, es ist nicht viel dahinter.
Soldat und Dirne, süßes Mädel und Schriftsteller, junger Herr und
Dienstmädchen, Schriftsteller und Schauspielerin — Frühling, Sommer,
Herbst und Winter, ach, es ist nicht viel dahinter. Wer Schnitzlers
„Reigen“ zu hören versteht, vernimmt aus ihm eine sehr traurige Melodie,
eine lächelnde Verachtung der subjektiven Lyrik, mit welcher der taumelnde
Einzelne die im Grunde unverrückbaren Vorgänge der Natur aufputzt und
verkleidet! Nichts törichter als die Meinung, diese Szenen müßten erotisch
wirken, weil sie sich mit dem erotischen Zentralthema beschäftigen. Ganz
im Gegenteil, sie wirken illusionzerstörend, eben weil hier die erotische
Illusion Szene für Szene analysiert wird. Ich finde, man geht aus dem
„Reigen“ mit jener spezifisch Schnitzlerschen Nachdenklichkeit hinaus, die
vom Erotischen entfernt, indem sic es objektiviert.
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