II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 852

11. Reigen
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Menschheit das Heiligste sein sollte. Die Wiederholung der nämlichen
Redewendung seitens der nämlichen Person bei zwei verschiedenartigen
Anlässen und die Wiederkehr solcher Wendungen bei verschiedenen Personen
in ähnlicher Lage, kennzeichnen treffend jenen Mangel an Eigenart und
Selbständigkeit, auf dem der geringe Persönlichkeitswert des Durchschnitts¬
menschen unserer Zeit beruht. Diese Entwürdigung des Geschlechtsver¬
kehrs zur Alltäglichkeit, zur Laune, zum Leichtsinn, zum Abenteuer, dies
Fehlen jeder großen, tiefen, sittlich begründeten echten, edlen Leidenschaft
wirken erschütternd, weil sie auf richtiger Beobachtung beruhen.
Inmitten der einzelnen Bilder, wenn zur Andeutung der sich voll¬
ziehenden Vereinigung der Vorhang auf wenige Sekunden sich schließt,
und zwischen den einzelnen Bildern ertönt eine Musik von Celesta und Cello
oder Geige und Flöte. Diese Musik lehnt sich an keine Kunstform an und
ist dazu bestimmt, mit ihren erotischen Phrasen die Stimmung festzuhalten,
die in dem Augenblick herrscht, in dem der Vorhang den Fortgang der
Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten Absicht der
Direktion gipfeln in der Erzielung eines sittlichen Ekels vor dem Tiefstand
der Haltung weitester Bevölkerungsschichten auf dem Gebiete des Ge¬
schlechtslebens. Auf diesen Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser
Erfolg wird bei jedem reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor allem
beruht diese Wirkung auf der ernsten Hingabe der Direktion an ihre Auf¬
gabe und auf ihrer überlegenen Kenntnis der Wirkung der szenischen
Darstellung.
So bedeutet diese Aufführung eine sittliche Tat.
Es besteht zwar die Gefahr, daß der „Reigen“ auf unreife oder
unzureichend gebildete oder schlecht erzogene oder sittlich verdorbene
Menschen einen Einfluß dahin ausübt, daß sie sich auf die hier gegeißelte
Auffassung von der Bedeutung des Geschlechtslebens einstellen. Doch kann
jedes Kunstwerk, welches eine Andeutung des Geschlechtlichen auch nur zu¬
läßt, auf diese mißbräuchliche Weise ausgenommen werden. Ferner wird
die Meinung vertreten, die Erörterung solcher Dinge auf der Bühne sei
an sich in sittlicher Hinsicht anstößig. Diese Meinung ist unzutreffend.
Vielmehr kann es für die Aufhaltung des sittlichen Verfalles nur förderlich
sein, diese Dinge so zurückhaltend und sachlich und zugleich so deutlich und
rücksichtslos aufzudecken und zur Erörterung zu stellen, wie es hier geschieht.
Aus diesen Gründen hat das Gericht die Ueberzeugung gewonnen,
daß durch die Aufführung von Schnitzlers „Reigen“ in sittlicher Beziehung
bei dem geistig und moralisch gesunden Menschen kein Anstoß erregt
wird.
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