II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 863

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Reigen
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Empfindenerheblichverleßen und dadurch
berechtigten Anstoßerregen müsse.
Zwei von dem Gericht besichtigte Aufführungen
erzielten folgenden Eindruck: Alles, was frech, schlüpfrig
eder zotig wirken könnte, wird vermieden. Selbst die
Aeußerungen gewöhnlichster Geilheit im ersten Bilde wurden
o abgetönt, daß von einer Reizung der Sinnlichkeit des Zu¬
schauers keine Rede sein kann. Gleiches gilt von der starken
sinnlichen Erregung, der Ausge assenheit und der Verführungs¬
kunst der Schauspielerin im neunten Bild. Die überaus schwierige
Aufgabe, die Darstellung hier nicht ins Unschickliche oder ins
tieriich Triebhafte entgleiten zu lassen, wird duich gelungene
Zurückhaltung und Zügelung alles Gemeinen vorbildlich gelost.
Im vierten Bild geht die Erörterung des Ausbleibens der Ge¬
chlechtsust mit aller Sachlichkeit und Rüchternheit vor sich. Die
Erötterung des Ehebruchs im fünften Bild erscheint not¬
wendig, um das seelische Erleben der jungen Frau hin¬
sichtlich des Ehebruchs, ihre Abenteuerlust, ihre Begehrlichkeit,
ihre innere Zwiespältigkeit und Unruhe ins rechte Licht
zu rücken.
Die körperliche Vereinigung sollte stets lediglich der
natürliche Ausfluß innigster seelischer Gemeinschaft sein. Ein
Verfall die er Auf assung hat leider in weitesten Schichten
Platz gegriffen. Diesen Kreisen wird durch diese Aufführung
die ganze Jämmerlichkeit des in ihrer Mitte mehr
und mehr einreißenden sittlichen Tiefstandes
nachdrücklichst vorgeführt. Es wird gezeigt, wie durch einen
unedlen und unvolllommenen Genaß des Augenblicks ge¬
dankenlos und würdelos zu Boden getreten wird, was der
Menichbeit das Heiligste sein sollte. Die Wiederholung der
nämlichen Redewendung seitens der nämlichen Perion bei
zwei verschiedenen Anlässen und die Wiederkehr solcher Wen¬
dungen bei verschiedenen Personen in ähnlicher Lage kenn¬
zeichnen irefsend jenen Mangel an Eigen¬
art und Selbständigkeit, auf dem der ge¬
ringe Persönlichkeitswert des Durch¬
schnittsmenschen unserer Zeit beruht. Diese
Entwürdigung des Geschlechtsverkehrs zur Alltäglichkeit, zur
Laune, zum Leichtsinn, zum Abenteuer, dieses Fehlen jeder
großen, tiefen, sittlich begründeten, echten, edlen Leidenschaft
wirken erschütternd,
weil sie auf richtiger Ber bachtung beruhen.
Inmtten der einzeinen Burder, wenn zur Andeutung der
sich vollz ehenden Vereinigung der Vorhang auf wenige
Selungen sich schließt, und zwischen den einzelnen Bildern er¬
tönt eine Musik von Celesta und Cello oder Geige und Flöte.
Diese Musik lehm sich an keine Kunstform an und ist dam
bestimmt, mit ihren erotischen Phrasen die Stimmung festzu¬
halten, die in dem Augenblick herrscht, in dem der Vorhang
den Fortgang der Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten
Absicht der Antragsgegner gipteln in
der Erzielung eines sittlichen Ekels vor dem Tiefstand
der Haltung weitester Bevölkerungsschichten auf dem
Gebiet des Geschlechtslebens.
Auf diesen Er olg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser
Erfolg wird bei jedem reifen, gebildeten Zuschauer auch
erzielt. Vor allem beruht diee Wirkung auf der ernsten
Hingabe der Theaterle#te# an ihre Aufgabe und auf ihrer über¬
legenen Kenninis der Wirtung der szenischen Darstellung. Auch
mag die Benützung des von Max Reinhardi verfaßten Regie¬
buches ihnen wertvolle Dienste geleistet haben, so bedeutet
diese Aufführung eine sittliche Tat.
Arbeiter-Zeitung
Es besteht zwar die Gefahr, daß der „Reigen, auf
unreise oder unzureichend gebildete
sittlich
erzogene oder
schlecht
oder
verdorbene Menschen einen Einfluß dahin aus¬
übt, daß sie sich auf die hier gegeißelte Auffassung von der
Bedeutung des Geschlechtslebens einstellen.
Doch kann jedes Kunstwerk,
welches eine Andeutung des Geschlechtlichen auch nur zuläßt,
auf diese mißbräuchliche Weise ausgenommen werden. Ferne
wird die Meinung vertreten, die Grörterung solcher Dinge auf
der Bühne sei an sich in sittlicher Hinscht anstößig. Diel
Meinung ist unzutrefsend. Dielmehr kann es für die
Au haltung des sittlichen Verfalls nur förderlich sein, diese
zurückhaltend und sachlich und zugleich so
so
Dinge
deutlich und rücksichtslos aufzubecken und zur
Erörterung zu stellen, wie es hier geschiehl.
Soweit ein Schaden für junge Menchen zu befürchten steht,
mag der Zutritt ihnen verboten werden.
Aus diesen Gründen hat das Gericht die Ueberzeugung ge¬
wonnen, daß durch die Aufführung von Schnitzlers „Reigen“ in
sittlicher Beziehung bei dem geis#rg und
moralisch gesunden Menschen ##n Anstoß
erregt wird.