II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 865

11. Reigen
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Mittwoch
Lorinser, Herman und Kletschinsky, die Gegner des Quecksilbers,
gehörten gleichfalls zu den beratenden Mitgliedern. In einer
Sitzung tat das objektivste Mitglied, nämlich mein Vater, den
Ausspruch, wenn man Syphilis zum Beispiel
mit
Grasabsud behandeln würde, so würden einzelne Fälle
geheilt werden, sicher aber auch alle Allgemeinerscheinungen
der Seuche in allen Fällen zum vollen Ausdruck kommen, wenn
die unglücklichen Kranken auch kein Atom Quecksilber erhalter
hätten. Dadurch war die Aufmerksamkeit der Behörden auf meinen
Vater gelenkt worden, und schon damals dachte man an die
Teilung der Klinik Sigmund. Mein Vater erhielt den Auftrag,
ein Promemoria an das Ministerium des Innern über Vor= und
Nachteile des Quecksilbers zu verfassen. Dasselbe wurde dem
Minister Karl Giskra überreicht und auf Antrag des Statthalterei¬
rates Fuchs wurde die Errichtung der zweiten Klinik und
Abteilung für Syphilis beschlossen und mein Vater beauf¬
tragt, Syphiliskranke ohne stark wirkende Medikament#
nur mit Jod allein und mit allen gegen Syphilis
wirksamen Mitteln, also auch mit Quecksilber, zu behandeln
Sigmund und Hebra traten, eine Einschränkung ihres Kranken¬
zuwachses befürchtend, gegen die Verkleinerung ihres Belegraumes
ein und Skoda und Rokitansky wurden zu Giskra geschickt, um
ihn von der Errichtung der neuen Abteilung abzuhalten. Dieses
Vorgehen hatte sicher eine Spitze gegen meines Vaters Person.
Giskra hielt aber an seinem Entschluß fest. Die Audienz beider
Helden aus Genieland wurde dadurch beendet, daß der Lakai
Giskra meldete: „Exzellenz, der Wagen ist vorgefahren“. Der hier
berichtete Vorfall gab dem Witzblatt „Floh“ Veranlassung zu dummen
aber gut illustrierten Witzen. Auch hier fand das Wort, der Witz
sei der Affe des Verstandes, volle Bestätigung. Im August wan
schon die Systemierung der Abteilung und die Ernennung meines
Vaters erledigt. Die Publizierung erfolgte erst im November 1868.
Diese Verzögerung der Veröffentlichung in der „Wiener Zeitung
hatte Gründe. Ein Dozent, ich will den Namen nicht nennen
suchte, wie es seine Art war, im trüben zu fischen. Er wollte
die neue Abteilung für sich erobern, nahm bei Giskra Audieuz und
riet von H. Zeißls Ernennung ab, weil dieser — krank sei. Damals
erfreute sich mein Vater voller Gesundheit. Exzellenz Giskra
ließ meinen Vater zur Audienz einladen und damit war das
Intrigenspiel abgetan. Um die erregten Gemüter im Allgemeinen
Krankenhause zu beruhigen, wurden gleichzeitig mit der Ernennung
meines Vaters im November 1868 Hebra und Sigmund zu
ordentlichen Professoren der Dermatologie ernannt. Systemisiert
waren die Kliniken noch nicht. Daß die Dermatologie zwei systemi¬
fierte Kliniken mit Ordinarien erhielt, wurde erst zur Zeit, als
Kaposi und Neumana Chefs der betreffenden Kliniken waren, fest.
gelegt. Die Lehrkanzeln in Prag waren mit Pick, Lipp und
E. Lang in Graz und Innsbruck besetzt. Dermatologie wurde von
Fall zu Fall beim Rigorosum geprüft, wenn Hebra, Sigmund und
H. Zeißl zu Gastprüfern gewählt wurden. Erst mit der neuen
Rigorosenordnung wurde dieser wichtige Gegenstand obligates
Prüfungsfach.
1
Aufführung von Schnitzlers
reeigen“
eine „sittliche
Tat“.
Nach dem Urteil der Sechsten Zivilkammer des
Berliner Landgerichtes III.
Man wird sich erinnern, daß die von Frau Eysoldt
und Herrn Sladek beabsichtigte erste Aufführung von Artur
Schnitzlers „Reigen“ im Kleinen Schauspielhause zu
Berlin auf Antrag des Hochschukleiters Professors Franz
Schreker von der Berliner Polizei aus Sittlichkeitsgründen
verboten und Frau Eysoldt und Herr Sladek mit hohen
Strafen bedroht wurden. Gegen die Verfügung appellierten
die beiden Künstler an die Sechste Zivilkammer des Berliner
Landgerichtes III als höhere Instanz und erzielten die
bedingungslose Freigabe der Aufführung. Jetzt liegt der
Wortlaut der landgerichtlichen Entscheidung vor, die eine
KmSammerhenen
Neues Wiener Journa!
sein kann. Gleiches gilt von der „starken sinnlichen Erregung
der Ausgelassenheit und der Verführungskunst der Schauspielerir
im neunten Bild Die überaus schwierige Aufgabe,
Darstellung hier nicht ins Unschickliche oder ins tierisch
Triebhafte entgleisen zu lassen, wird durch gelungene Zurück¬
haltung und Zügelung alles Gemeinen vorbildlich geköst. Im
vierten Bild geht die Erörterung des Ausbleibens der Geschlechts¬
lust mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit vor sich. Die Er¬
örterung des Ehebruches im fünften Bild erscheint notwendig,
um das seelische Erleben der jungen Frau hinsichtlich des Ehe¬
ruches, ihre Abenteuerlust, ihre Begehrlichkeit, ihre innere Zwie¬
pältigkeit und Unruhe ins rechte Licht zu rücken.
Die körperliche Vereinigung sollte stets lediglich der natür¬
liche Ausfluß innigster seelischer Gemeinschaft sein. Ein Verfall
dieser Auffassung hat leider in weitesten Schichten Platz
gegriffen. Diesen Kreisen wird durch diese Aufführung
die ganze Jämmerlichkeit des in ihrer Mitte mehr und mehr
einreißenden sittlichen Tiesstandes nachdrücklichst vorgeführt. Es
wird gezeigt, wie durch einen unedleu und unvollkommenen Genuß
des Augenblicks gedankenlos und würdelos zu Boden getreten
wird, was der Menschheit das Heiligste sein sollte. Die Wieder¬
holung der nämlichen Redewendung seitens der nämlichen
Person bei zwei verschiedenen Anlässen und die Wieder¬
kehr solcher Wendungen bei verschiedenen Personen in ähn¬
icher Lage kennzeichnen treffend jenen Mangel an Eigenart
und Selbständigkeit, auf dem der geringe Persönlichkeitswert
Ds-Durchschnittsmenschen unserer Zeit beruht. Diese Entwürdigung
des Geschlechtsverkehrs zur Alltäglichkeit, zur Laune, zum Leicht¬
inn, zum Abenteuer, dies Fehlen jeder großen, tiefen, sittlich
begründeten, echten, edlen Leidenschaft wirken erschütternd, weil
sie auf richtiger Beobachtung beruhen.
Inmitten der einzelnen Bilder, wenn zur Andeutung der
sich vollziehenden Vereinigung der Vorhang auf wenige Sekunden
sich schließt, und zwischen den einzelnen Bildern ertön
eine Musik von Celesta und Cello oder Geige und Flöte. Diese
Musik lehnt sich an keine Kunstform an und ist dazu bestimmt,
mit ihren erotischen Phrasen die Stimmung festzuhalten, die in
dem Augenblick herrscht, in dem der Vorhang den Fortgang der
Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten Ab¬
icht der Antragsgegner gipfeln in der Erzielung eines sittlichen
Ekels vor dem Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerungs¬
chichten auf dem Gebiete des Geschlechtslebens. Auf diesen
Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei jedem
reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor allem beruht
diese Wirkung auf der ernsten Hingabe der Antragsgegner
an ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen Kenntnis der Wirkung
der szenischen Darstellung Auch mag die Benutzung des von
Max Reinhardt verfaßten Regiebuches ihnen wertvolle Dienste
geleistet haben. In der zweiten vom Gericht besichtigten Auf.
ührung verloren im vierten Bilde der weibliche Teil, im neunten
Bilde beide Teile die Haltung, indem sie gerade an Stellen von
entscheidender Bedeutung ohne jeden Zusammenhang mit ihrer
Rolle in den Zuschauerraum hineinlachten. Es ist kennzeichnend
für den hohen Stand der Aufführung, daß durch diese an sich
sehr bedauerlichen Entgleitungen der Gesamtwirkung kein Abbruch
geschah. So bedentet diese Aufführung eine sittliche Tat.
Es besteht zwar die Gefahr, daß der „Reigen“ auf unreise
oder unzmreichend gebildete oder schlecht erzogene oder sittlich ver¬
dorbeue Menschen einen Einfluß dahin ausübt, daß sie sich auf
die hier gegeißelte Auffassung von der Bedeutung des Geschlechts¬
lebens einstellen. Doch kann jedes Kunstwerk, welches eine An¬
deutung des Geschlechtlichen auch nur zuläßt, auf diese miß
bräuchliche Weise ausgenommen werden.
Ferner wird die
Meinung vertreten, die Erörterung solcher Dinge auf der
Bühne sei an sich in sittlicher Hinsicht
anstößig. Diese
Meinung ist unzutreffend. Vielmehr kann es für die Auf¬
haltung des sittlichen Verfalls nur förderlich sein, diese Dinge so
urückhaltend und sachlich und zugleich so deutlich und rücksichtslos
anfzudecken und zur Erörterung zu stellen, wie es hier geschiebt
2. Fet
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